Körper-Reflexe als Muster.
Die Sprache der Ilias ist nicht nur das literarische Medium einer zeitlich
linear ablaufenden Handlung, eine langsam auslaufende Welle. Sie ist auch eine
visuelles Medium, das über 15.000 Verse hinweg in einer stehenden Welle
mimetisch das Bild dieses Körpers erzeugt. Über den Körper wird
auf den Körper verwiesen, der Körper wird be-zeichnet, zum Zeichen
gemacht, genau: zum selbstreferentiellen Zeichen.
Die sprachlichen Figuren und Motive, aus denen sich dieses Bild generiert,
sind nicht erzählerisch nacheinander angeordnet und inhaltlich verkettet,
sondern auf dem Grund des Epos in eigenen Strukturen und Mustern aufgebracht,
die sich nicht an den zeitlichen Ablauf der Erzählung halten.(1)
Eine visuell orientierte Lesart, ein "Bild-Scannen", reagiert nun
verstärkt auf Wiederholungen, Verdichtungen, Variationen und serielle
Anordnungen bestimmter Figuren, und stellt weitere Bezüge in einer mitunter
der Handlung gegenläufigen Richtung her, auch plötzliche Verbindungen über
- sowohl inhaltlich, wie in Versen - große Distanzen im Text hinweg. In
diesem Sinn wurden bildhafte Motive aus dem Text ausgeschnitten und nach darin
vorkommenden charakteristischen, visuellen Merkmalen in wiederholten Durchgängen
geordnet.
So gelangt man auf dem Umweg über die Dekonstruktion der Erzählung
zu einer behutsamen Restauration der körperlichen Verfassung des Textes:
(1) Uvo Hölscher hat schon für die erzählerische Struktur der
Ilias einen symmetrischen Aufbau nachgewiesen, der sich grafisch darstellen läßt
und der Auffassung einfacher Linearität in der Ilias widerspricht. Die
Bild-Struktur ist noch wesentlich komplexer.
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