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  ILIAS
    Folge mir, wie ich der Rede Ziel in die Sinne dir lege

Einleitung

Der Preisträger im Ingeborg-Bachmann-Literaturwettbewerb 1995, Franzobel, reussierte mit einem Text, der methodisch und intentional starke Parallelen zur konzeptionellen bildenden Kunst aufweist.
Der Autor schloß sein Studium an der Universität Wien bezeichnenderweise mit einer Diplomarbeit zum Thema "Visuelle Poesie" ab.
Vor ungefähr 4 Jahren stellte sich eine Meisterklasse der Hochschule für Angewandte Kunst mit einem Plakat in der Öffentlichkeit dar, das den Titel "Viel Text - kein Bild" trug, und auf dem Forderungen für eine Reform der Kunsthochschulen erhoben wurden.
Das mag überraschen. Die Grenzen zwischen Bild und Text haben sich jedoch bereits vor einiger Zeit aufgelöst, und zwar von beiden, von allen Seiten her.(1)
Wir leben in einer visuellen Kultur, wir senden und erhalten Botschaften quantitativ vor allem in Gestalt von Bildern, und zwar tatsächlich viel mehr, als wir bewußt verarbeiten, das heißt verstehen können.
Aufgrund der Dichte an Bildern könnte man annehmen, wir seien Bildspezialisten, aber sind wir das?
Viele Menschen, die sich täglich mit einer Bilderflut konfrontiert sehen, und sich darin sogar einigermaßen zu orientieren im Stande sind, wissen von den Diskursen der bildenden Kunst nichts, scheinen nicht in der Lage zu sein, ja sich sogar zu weigern, künstlerische Arbeiten zu verstehen. Ein Phänomen in diesem Zusammenhang ist der Deutungszwang, der immer dort auftritt, wo etwas als Kunstwerk ausgewiesen ist - ob Text oder Bild spielt dabei wenig Rolle(2) -, und der zu den krassesten Mißverständnissen führt: Man sieht den Wald vor lauter Bäumen nicht.
Wer hat den Menschen beigebracht, alles, was sie sehen, auslegen und deuten zu können, sogar zu müssen?
"Nur sehen" ist scheinbar gleichbedeutend mit "blind sein" und macht Angst.
Die Auslegung, zuallererst auf Texte angewandt, hat eine lange Tradition in unserer Kultur- und Geistesgeschichte. Bereits in der Antike ist, begünstigt durch die einfach zu handhabende griechische Schrift, eine Buch und Lesekultur entstanden, "die ihre Kohärenz und Kontinuität ganz auf Texte und deren Auslegung gründet. Institutionen der Interpretation sichern die kulturelle Kontinuität, von den "Philologoi" über die Mönche zu den Humanisten."(3)
Der Auslegung bedient man sich immer dann, wenn der direkte Zugang, aus welchen Gründen auch immer, erschwert ist, und sie wird allzuoft als "Übersetzung" verstanden, etwa vom (unverständlichen) Text in (verständliche) Sprache oder vom (unverständlichen) Bild in Text, in Sprache.
Konträr dazu sind seit den 40er Jahren unseres Jahrhunderts avantgardistische Strömungen entstanden, die sich - auch theoretisch - um die Selbstvergewisserung der Kunst bemühen, indem sie sich intensiv mit selbstreferentiellen Zeichen auseinandersetzen.
Über diese Tendenzen sagt der deutsche Theoretiker Sauerbier:
"Kunst gilt als System der Repräsentation durch Zeichen von oder für etwas von diesen Zeichen Unterschiedenes - die Kunst wird nun reduziert auf Bestandteile der identischen Präsentation von Objekten, Situationen und Ereignissen."(4)
Und bezeichnenderweise haben sich gerade in diesen Experimenten die Definitionen der traditionellen Disziplinen (oder Selbstdefinitionen von Künstlern über diese Disziplinen) bis zur Unanwendbarkeit aufgehoben. Performance, Concept Art, Konkrete Poesie, usw. können nicht mehr über ihre Ausdrucksmittel, Medien oder Materialien bestimmt werden.
Die Techniken und Methoden haben sich von den Materialien emanzipiert, die Materialien und Medien sind selbst zum Thema geworden. Dieses Thema könnte die "Materialität der Kunst" genannt werden.
In ihrem Aufsatz "Die Sprache der Dinge" sagt Aleida Assmann: "Der Blick muß" in der gängigen bedeutungs- bzw. deutungsorientierten Lesart "die (gegenwärtige) Materialität des Zeichens durchstoßen, um zur (abwesenden) Bedeutungsschicht gelangen zu können. "
Dem stellt sie die "wilde Semiose" gegenüber, die sich auf die Materialität eines Gegenstandes oder Textes einläßt, "denn neben dem schnellen, schlauen Blick durch die Oberfläche gibt es den langen faszinierten Blick, der sich von der Dichte der Oberfläche nicht abzulösen vermag. (...) Dem Drang zur verflüssigenden Spiritualisierung tritt die Materialisierung des Textes als ein Veto entgegen."(5)
Das hierarchische Modell vom höheren Sinn, dem man durch Deutung auf die Schliche kommen kann, ist damit einer (anderen) Frage gewichen:
"Materialitäten der Kommunikation sind ein modernes Rätsel, womöglich sogar das moderne. Nach ihnen zu fragen macht Sinn erst seitdem (...) klar ist: Es gibt (...) keinen Sinn, wie Philosophen und Hermeneutiker ihn immer zwischen den Zeilen gesucht haben, ohne physikalischen Träger."(6)
Dieses Rätsel kann aber in den alten Kategorien, etwa von Wort und Bild, nicht gelöst werden. Nicht die Kategorisierung der Manifestationen liefert Antworten, sondern nur die Manifestationen selbst(7). An den Materialitäten können die Experimente der Kunst fortgesetzt werden, fern von jeder (definitorischen) Tyrannei des Materials.
Zeichen und Bedeutung, Material und Sinn sind daher sorgfältig voneinander zu lösen.
Unmittelbar vor dem Beginn der "Buch- und Lesekultur", die die Auslegung als Methode entwickelte (J. Assmann), und damit vor dem Beginn des "Kampfes der Schrift gegen das Bild" (Flusser), ist vielleicht jene Phase anzusiedeln, von der Vilém Flusser allegorisch erzählt, indem er sagt: "einige Menschen (versuchten), sich an die ursprüngliche Absicht hinter den Bildern zu erinnern. Sie versuchten die Bildschirme zu zerreißen, um den Weg in die Welt dahinter freizubekommen. Ihre Methode war, die Bildelemente (Pixels) aus der Oberfläche zu reißen und sie in Zeilen anzuordnen: sie erfanden die lineare Schrift. Und sie codierten damit die zirkuläre Zeit der Magie in die lineare der Geschichte um."
Sie könnte als Phase der mythischen Texte, der großen Epen identifiziert werden.
Das mythische oder "wilde Denken" wird von Claude Levi-Strauss mit einem Bastler verglichen, dessen Mittel nicht im Hinblick auf ein Projekt bestimmbar sind, sondern nur durch ihren Werkzeugcharakter. "Jedes Element stellt eine Gesamtheit von konkreten und zugleich möglichen Bezügen dar. ( ... ) Auf die gleiche Weise liegen die Elemente der mythischen Reflexion immer auf halbem Wege zwischen sinnlich wahrnehmbaren Eindrücken und Begriffen."(8)
Die Materialitäten dieser Texte lassen sich demzufolge weder dem Zweck (Projekt) nach, noch ihrer Funktion nach (sinnlich-wahrnehmbar oder begrifflich) den einfachen Kategorien von Bild oder Text zuordnen.
Ausgehend davon, daß die Ilias, das große homerische Epos, als ein Text aus dieser Phase, als Vermächtnis aus einer mythischen Vorzeit der Texte vorliegt, ausgehend auch davon, daß sie "voller Bilder" ist, ausgehend davon, daß es der Interpretationen unzählige gibt , und gleichzeitig all das nicht beachtend, gilt es daher, experimentell, dekonstruktiv und rekonstruktiv eine "physikalische Trägerschicht", eine physische Oberfläche der Bilder nachzuweisen.
Das ist der (theoretische) Ausgangspunkt für die Arbeit an der Ilias.
Aber nicht der initiale Moment künstlerischen Interesses.
Die ursächliche Bedingung für "wilde Semiose" ist nach Aleida Assmann der faszinierte Blick.
Daher noch einmal die Frage: warum die Ilias?
Aus zweierlei Gründen:
zum einen ist sie - immer noch - ein sogenannter Quellen-Text unserer gesamten Kultur-und Geistesgeschichte, ein sakrosanktes Original, und daher für eine Dekonstruktion, für eine zärtliche Demontage besonders reizvoll.
Als literarischer Text (im speziellen als übersetzter Text - und schon die Transposition gesprochener Sprache ist eine Übersetzung) ist die Ilias eine Ruine. Denn eigentlich handelt es sich um einen oralen Text, den Überrest einer Performance. Wie alle Ruinen ihrer Zeit ist sie unseren Sinnen daher auch nicht "originalgetreu" rekonstruierbar. Die Dekonstruktion kann aber die "Spuren früherer Nutzungen" am Material freilegen, und so für uns lesbar machen.
Zum zweiten ist sie uns in einem von Nietzsche entlehnten Wort Uvo Hölschers, eines bedeutenden Philologen, "das nächste Fremde", in dem uns "das Eigene dort in einer anderen Möglichkeit, ja überhaupt im Stande der Möglichkeiten begegnet"(9).
Daß Homer, wer immer er war, blind war, ist ein Allgemeinplatz der Überlieferung. Bemerkenswert ist, daß die Gabe des Sehens in einer gesteigerten Form als "hellsichtig sein", in der Mythologie häufig mit Blindheit einhergeht. Das, als irrationales Versprechen genommen, verführt dazu das "Nur-Sehen" auf sich zu nehmen, Sinn und Inhalt preiszugeben, in der Hoffnung an den eigentlichen Ur-Stoff, das Stoffliche in der Ilias zu kommen: "Der nicht-ursprüngliche Ursprung ist keine Gegenwart vor einer Zeit, die ihr folgt. Das Werden breitet sich aus im/als Raum, indem es einen Verweisungszusammenhang voraussetzt und (mit) konstituiert." (Derrida)
Oder einfacher:
"jemand sagte: was bemüht ihr euch um den Homer? ihr versteht ihn doch nicht. Darauf antwort ich: Versteh ich doch auch Sonne, Mond und Sterne nicht; aber sie gehen über meinem Haupt hin und ich erkenne mich in ihnen, indem ich sie sehe ..." (Goethe, Maximen und Reflexionen)
Alles weitere wird sich zeigen.


(1)Das Textbild ist eine bereits in der Antike entwickelte künstlerische Ausdrucksform. (s. K. Thomas, 1973, S. 240)

(2) Vgl.: "Zugleich stellt Peter Handke mit poetischen Verfahrensweisen eine Literaturwissenschaft in Frage, die durch Interpretieren nur den Blick auf das Kunstwerk verstellt. Der wissenschaftliche Zugang soll reines Forschen sein - ohne Deutung." (C. Markolin, 1991, S. 13)

(3) (J. Assmann, 1992, S. 279)

(4) (S. D. Sauerbier, 1976, S.16)

(5) (A. Assmann,1988, S. 238, 240, 241)

(6) (F. Kittler, 1988, S. 342)

(7) Vgl. dazu die genaue Unterscheidung zwischen Werbebotschaft, Werbemittel (z.B. Inserat) und Werbeträger (z.B. Tageszeitung) in der Werbelehre.

(8) (C. Levi-Strauss, 1968, S. 31)

(9) (Hölscher, 1994, S. 278)

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