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  ILIAS
    Folge mir, wie ich der Rede Ziel in die Sinne dir lege

2.3. Die Ilias als Gedächtnisbild.

Das sind Anforderungen, die im Übergang zur Schriftkultur nicht nur explizit an Lehrbücher gestellt wurden, sondern an die gesamte literarische Produktion. Heute werden dieselben, durch die Tradition der Schriftkultur, nur mehr bedingt an Texte gestellt.
Der Text, insbesondere der wissenschaftliche Text, wird weitgehend abstrakt, und daher an sich als Abstraktion verstanden. Vilém Flusser beschreibt diese Texte als Texte, die nicht mehr entziffert werden können, was bedeutet, daß der Mensch die "in ihnen bedeuteten Bilder nicht mehr rekonstruieren kann".
Die griechische Gesellschaft, die Adressatin der homerischen Epen, weist nun einige Parallelen zur vorher geschilderten mittelalterlichen auf. Auch sie ist eine aristokratische, ritterliche Gesellschaft.
Jan Assmann skizziert sie wie folgt:
"Diese Gesellschaftsform ist ritterlich, d. h. aristokratisch, kriegerisch und individualistisch geprägt. Zum Rittertum gehört, wo überall wir es auf der Welt antreffen, ein Superioritätsbewußtsein und ein besonderes, gewissermaßen individualistisches Selbstgefühl, das sich wohl vor allem aus dem für die Pferdezucht notwendigen Landbesitz und aus der "übermenschlichen" Geschwindigkeit der Fortbewegung ergibt."(1)
Auch sie, die homerische Gesellschaft, befindet sich in einem Stadium des Übergangs zur Schriftkultur. Gebauer und Wulf halten für die orale Kultur Griechenlands fest, daß die (gesprochene) Sprache generell, also für die gesamte Kultur - nicht nur für die Jugendlichen - eine unmittelbar pädagogische Funktion erfüllte. Die Dichter bildeten Identität und Kontinuität aus, konstituierten so die kulturelle Erinnerung. In der Dichtung sehen Gebauer/Wulf eine "Enzyklopädie eines sozialen Habitus", und bezeichnen sie (nach Eric A. Havelock) weiters als "aufbewahrte Kommunikation"(2)
Für die Ilias gilt daher ebenfalls, was für die höfische Literatur des Mittelalters gilt, sie war sinnlich konzipiert. Daraus entsteht, was Wenzel treffend als "die Partizipation am Text oder die Sichtbarkeit der Literatur" bezeichnet:
"In der augenorientierten höfischen Erziehung kann die Partizipation am Text sich in der Konkurrenz mit dem sozialen Lernen nur dann behaupten, wenn die Literatur auf die Visualisierung ihrer Inhalte angelegt wird, wenn das Ohr zum Diener der bildhaften Vorstellungskraft wird. Es ist deshalb als Grundcharakteristikum der höfischen Literatur in der Volkssprache zu bezeichnen, was Kolve für Chaucer konstatiert hat: "there is much that is >visual<, that invites the audience to >see<, to image, to imagine" (Kolve 1984, S. 58)."(3)
Dieses "Sehen", die Sichtbarkeit des Textes, das Bild in der Vorstellung des Publikums, bewerkstelligt der Dichter der Ilias durch den Dreisprung der Wahrnehmung mit Hilfe der Kinästhesis. Während der Rethoriker die drei Stationen linear verbindet und in seinem Gedächtnis durch eine Bewegungsvorstellung (das "Durchwandern") Bilder, und damit den Text seiner Rede abruft, so zielt der Sänger/Dichter - Sprache, Körper und Bilder in kreisenden Bewegungen zu komplexen Figuren verbindend - zwischen diesen Stationen auf den Körper der RezipientInnen.
Der Körper hat daher eine zentrale Bedeutung im Epos. Uvo Hölscher nennt die Ilias ein "Gedicht der Leiden: der Leidenschaften und des Unmaßes". Nicht zufällig werden wohl auch die antiken Pathosformeln Aby Warburgs, aus denen sich die expressive Gebärdensprache der europäischen bildenden Kunst generiert, von Dorothee Bauerle "Verkörperungen des Leidens und der Leidenschaft"(4) genannt. Das Pathos (griechisch: "Leiden") der Ilias entsteht als Erfahrung des Körpers. Daher ist auch auf der Bildebene der Ilias überdimensional-unmäßig(5) der Körper dargestellt.
Hier liegt der entscheidende Unterschied zu modernen Texten, zu unseren literarischen Konventionen, zu unseren sprachlichen Möglichkeiten und letztlich zu unseren Vorstellungen von Sprache überhaupt.




(1) (J. Assmann, 1992, S. 275)

(2) (Gebauer/Wulf, 1992, S. 73, S. 74)

(3) (H. Wenzel, 1988, S. 190)

(4) (D. Bauerle, 1988, S. 31 u. S. 32)

(5) Auf den Aspekt des Unmaßes wird unter dem Begriff des "Disproportionalen" im dritten Abschnitt der Analyse noch gesondert eingegangen werden.

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