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  ILIAS
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2.4. Erinnerung an den Körper

In der Ilias "kommt der Körper zur Sprache", wie es Dietmar Kamper in seiner Geschichte der Einbildungskraft fordert.
Kamper tritt darin für die "exakte Phantasie" als eine "körperliche Einbildungskraft" gegen die "hochgespielte Phantastik gegenwärtiger Realität" ein:
"Der Verdacht geht dahin, daß die hochgespielte Phantastik gegenwärtiger Realität das Spiel der Einbildungskraft nur deshalb konterkarieren kann, weil sie im Bunde mit der gesellschaftlichen Abstraktion die menschlichen Körper, die - streng genommen - nicht wegzudenken sind, zu überspringen vorgibt und trotz ihrer parasitären Stellung den Anschein "produktiver Tätigkeit behauptet."(1)
Flusser nennt das die "Textolatrie": die Unvorstellbarkeit der Texte bewirkt, daß der Mensch nur noch in Funktion dieser, seiner Texte lebt. Flusser hebt den halluzinatorischen Charakter dieser Wirkung hervor.
Denselben halluzinatorischen Charakter, den er aber auch an der "Idolatrie", der wirklichkeits(z)ersetzenden Wirkung unentzifferter Bilder kritisiert, und den er ebenso in der Gegenwart, in der technischen Bilderflut, wirksam sieht. Weshalb sich jede Auseinandersetzung, in der Partei für das eine (Text) oder das andere (Bild) ergriffen wird, sofort ad absurdum führt, denn der Versuch einer Rückkehr aus der Halluzination in die Imagination führt nach Flusser über einen dialektischen Prozeß gegenseitiger Verstärkung.
Kamper plädiert in diesem Sinn für - "eine Denkbewegung", die sich auch "der Hilfe bewegter Körper versichern muß."(2) Er sieht darin die Möglichkeit zu einer "nicht-reaktionären Kritik der Moderne".
Seine Aufforderung zur "Umkehr nicht zu historischen Zuständen, sondern zu geschichtlichen Kräften" läßt an die "befreiende, kontrapräsentische Kraft der Erinnerung", die Jan Assmann in antiken Texten wie der Ilias lokalisiert, denken. Für die Bearbeitung der Ilias unter dem Aspekt ihrer Bildhaftigkeit sind diese Überlegungen daher von zentraler Bedeutung.
Im Versuch, die Irrtümer einer vorwegnehmenden Deutung zu vermeiden, ist durch die Dekonstruktion des Textes eine Rekonstruktion der Bilder und damit der Sprache des Körpers möglich.
Analog dazu ist das Verfahren der modernen Archäologie, bei schon früher restaurierten Objekten vorsichtig die Schichten der Interpretation von den authentischen Schichten zu trennen, und dadurch sichtbar zwischen den Phasen der Entstehung, der Restauration und der (beides zusammen-sehenden) Betrachtung zu unterscheiden, letztlich falsche Vorstellungen vermeintlich ursprünglicher Verhältnisse zu vermeiden. Diese falschen Vorstellungen ursprünglicher Verhältnisse sind immer auch ungenaue Vorstellungen über das, was man unmittelbar vor sich sieht, und die dazu führen, daß Grenzen (etwa zwischen einst und jetzt), ob sie nun beachtet werden sollen oder nicht, nicht als solche erkannt werden können.
Erinnerung auf der Basis exakter Phantasie bei Kamper ist solchen ungenauen Vorstellungen diametral entgegengesetzt:
"Die Kritik der Gewalt, die das Denken selbst darstellt, kann nur ein Denken sein: exakte Phantasie (Goethe). Daran muß - um die alten Rückfälle in rational bestimmte Irrationalismen zu vermeiden - erinnert werden. Die Kraft, auf die es geschichtlich ankommt, ist die Einbildungskraft, ein Vermögen, das Goethe nach den Maßen des menschlichen Körpers konstruiert sieht: eine konkrete Synthesis der Sinne, einerseits zur planmäßigen Aneignung einer mangelhaften Welt ebenso, wie zur Verausgabung von Überschüssen determinierend, andererseits nur um den Preis des Versagens aus körperlicher Konkretheit in Raum und Zeit ablösbar. Erst unter der Bedingung, daß der Körper verlassen wird, ist "exakte Phantasie" verläßlich. Darüberhinaus jedoch mutiert sie zu jener vagen Phantastik, die mit der Macht kollaboriert und das Ende jeder Sinnlichkeit bedeutet.
Die exakte Phantasie ist mithin eine körperliche Einbildungskraft, die sich nur an bestimmten Orten und zu bestimmten Zeiten entfalten kann, physiognomisch bis ins Herz, vereidigt auf die Schriftzeichen, die der Körper darstellt, und immer auf der Spur der Korrespondenzen, die auch nach der Zerissenheit noch lesbar sind."(3)
Die Bilder der Ilias sind dem Körper als seine Schriftzeichen so genau eingebildet, daß in der radikalen Offenheit jenseits jeder moralisierenden oder didaktischen Absicht, in der schrecklichen Genauigkeit der Zerstörung auch seine Grenzen sichtbar werden. Hier wird die ästhetische, das heißt: sinnlich genaue, Darstellung des Körpers im Krieg, die wir zuerst als ästhetisierend und daher problematisch empfinden (vgl. die "hundertfachen Tode" und das heroische Idealbild des schönen Kriegers bei U. Hölscher), zu einer für die sensibilisierende Suggestion notwendigen Wahrnehmung.
Ästhetisierung erleben wir dagegen in der Darstellung des Körpers im gegenwärtigen Körperkult, etwa im modernen Sport. Im Sportler haben wir - in mehr als einer Hinsicht - ein unscharfes Vexierbild des Kriegers vor uns, das uns für die Realität des Körpers zunehmend unempfindlich macht.
Das, was Dietmar Kamper "die hochgespielte Phantastik gegenwärtiger Realität" nennt, tritt im Sport - unter anderem, aber hier besonders anschaulich- als Simulation scheinbar endlos ausdehnbarer Belastungs- und Leistungsfähigkeit des menschlichen Körpers und damit Vermeidbarkeit des Todes in Erscheinung(4). Hier wird der Blick auf den Körper vernebelt.
Die reale Grenze des Körpers ist dadurch scheinbar zu einem "limes gegen unendlich" geworden, einem angenommenen Grenzwert, dem man sich in unendlich vielen, immer kleineren Schritten annähern kann, ohne ihn jemals zu erreichen.
Gegenüber diesen phantastischen Wucherungen einer immer dicker werdenden Haut, einer erstickenden Oberflächlichkeit, bleibt die Ilias verblüffend direkt, dünnhäutig und einfältig, indem sie sich in ihren Bildern an die Materialität ihres Objektes, des Körpers, hält:

" ... da schlug unters Ohr in den Nacken
Ihm Peneleos, ganz hinein tauchte das Schwert, nur die Haut noch
Hielt, und der Kopf hing seitwärts, und unten erschlafften die Glieder"
(Ilias, XVI, 339 - 341)

Die Materialität, die Körperlichkeit, ist demzufolge auch die einfache und universelle, poetische Sprache der Ilias.
Der Körper, der hier im Text abgebildet ist, kann sich dem Körper "neu" einbilden, d.h. mimetisch wahrgenommen werden.
"Zwischen dem buchstäblich werden und der Sprache der Dinge besteht ein enger Zusammenhang. Die aus dem Ordnungsgefüge konventioneller Beziehungen entlassenen Zeichen können neue, unerwartete Beziehungen eingehen. Hierin liegt das subversive und innovative Potential wilder Semiose(5)."(6) schreibt Aleida Assmann in ihrem Aufsatz "Die Sprache der Dinge: der lange Blick und die wilde Semiose", und weiter: "Der faszinierte Blick ist mit ekstatischer Selbstwahrnehmung verbunden."(7)
Der lange, langsame, schwerfällige, der "starrende" Blick muß daher das Werkzeug bei der der Bergung der Ilias-Bilder sein.
Wie der/die FilmanalytikerIn sein/ihr Material vor- und zurücklaufen läßt, im Vor- und Rücklauf Teile überspringt, und andere zueinander "sieht", an Details hängenbleibt, die Erzählung in einzelne Standbilder auflöst, so ist die Dekonstruktion des Textes eine allmähliche Rekonstruktion des Bildes. Vom gesamten hermeneutischen Material inhaltlicher Deutungen aus den Bereichen von Philologie, Geschichte und Literaturwissenschaft muß abgesehen werden.
"Im übrigen verfährt die Rekonstruktion wie eine Archäologie. Ihr Material sind die (stummen) Zeugnisse auf dem Wege des Verstummens des Körpers, jene denkbilderartigen Chiffren, die im Kontext der bekannten Geschichte rätselhaft blieben und in eine andere, noch wenig geübte Sprache übertragen werden müssen. Auch in diesem Konflikt zweier Lesarten wirkt die säkulare Spaltung nach, um die es hier geht."(8)




(1) (D. Kamper, 1990, S. 39)

(2) (ebenda, S. 43)

(3) (D. Kamper, 1990, S. 44 u. 45)

(4) "Der Tod wird in das Leben der Athleten miteinbezogen, aber nur um das Leben zu erhöhen. Weil er realer Tod ist, nicht symbolischer ist, hat er im Sportgeschehen selbst keinen Platz; er liegt an den Grenzen des Sports. Der Stierkampf ist ein Agon, dessen Sinn durch die Anwesenheit des Todes, der Sport ein Agon, dessen Sinn durch das Vermeiden des Todes gegeben wird. Der Tod im Sport ist daher ein Unfall, der das sportliche Geschehen zerstört. Er gehört aber zu der besonderen "Religion des Lebens", die man bei Extremleistungen vorfinden kann und die die Idee des Todes braucht, um aus Leben einen Exzeß zu machen." (G. Gebauer, 1986, S. 277)

(5) ">The lunatic, the poet and the lover / Are of imagination all compact.< Was diesen von Shakespeare zusammengerückten Dreien gemeinsam ist, könnte man die Energetik des faszinierten Blicks nennen. Dem schizophrenen, ästhetischen, erotischen Blick ist die Welt unselbstverständlich. Indem er der Dinge in ihrer Materialität ansichtig wird, dringt er durch die Anonymität des Gewöhnlichen und die ewige Wiederkehr des Alltäglichen hindurch. Shakespeare hat die Unterschiede zwischen den verschiedenen Typen absichtsvoll nivelliert, um sie alle als Virtuosen wilder Semiose auszuweisen. Wilde Semiose ist das weite Feld, das sich zwischen den Polen des Pathologischen und des Kreativen erstreckt. Lacan hat das Phänomen der Schizophrenie als Auseinanderbrechen der Signifikantenkette beschrieben. Indem die syntagmatische Verbindung der Zeichen wie auch der Beziehung zwischen Signifikant und Signifikat reißt, zerfällt >alles in Teile, die Teile wieder in Teile<. Die Atomzertrümmerung der Wirklichkeit in kleinste Elemente macht sie als Raster zwischenmenschlicher Orientierung und Kommunikation unbrauchbar, dafür gewinnt sie aber in gesteigerten Augenblicken eine überwältigende Gegenwart. Dem Schizophrenen (wie dem Künstler, dem Liebenden und man möchte hinzufügen: dem religiösen Mysten) wird sie prä-sent, das heißt sie bleibt emphatisch vor seinen Sinnen stehen.

Derart vereinzelt, überwältigt die Gegenwart das Subjekt plötzlich mit unvorstellbarer Vitalität: Eine überwältigende Materialität der Wahrnehmung kommt auf, die wirkungsvoll die Macht des sprachlich-materiellen oder genauer des buchstäblichen Signifikanten in seiner Vereinzelung in Szene setzt (Jameson 1986, S. 72)" (A. Assmann, 1988, S. 237)

(6) (ebenda, S. 237 u. S. 238)

(7) (ebenda, S. 249)

(8) (D. Kamper, 1990, S. 45)

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