2. BILD I: Bild - Text.
2.1 Bild-Körper-Sprache als Stationen mimetischer Synthesis
Um die Ilias als "bildhaften Text" im eigentlichen Sinne zu
verstehen, müssen wir uns nochmals ihre oralen Wurzeln ins Gedächtnis
rufen. Wie Gebauer und Wulf ausgeführt haben, beruhen sie auf der
sprachlichen Mimesis, dem "zeigenden Sprechen". "Zeigen" muß
hier aber in einem viel umfassenderen Sinn aufgefaßt werden, als wir das üblicherweise
tun, indem wir es als "(visuell) auf etwas hinweisen" verstehen.
"Das Zeigen sollte daher nur als eine Form des nonverbalen, das
heißt leiblichen Verhaltens angesehen werden. Theorien der Deixis können
keineswegs adäquat sein, soferne sie nichts als Variationen über das
Thema des Zeigens sind. Daraus folgt, daß nicht nur die eine oder andere
Zeigegeste, sondern das gesamte nonverbale Verhalten in der kommunikativen
Dyade, das sich aus der Zuwendung und Blickstellung zweier Leiber ergibt, in der
Sprache strukturell präsent ist."(1)
Die kommunikative Dyade, die kommunikative "Zweiheit", das
Sich-Austauschen von Angesicht zu Angesicht (oder face-to-face, wie die
Soziologen sagen) ist die Keimzelle der sprachlichen Mimesis, und wie Harald
Weinrich richtig feststellt, ist hier der gesamte Körper mit allen seinen
Sinnen in die Kommunikation einbezogen: Vermittlung vollzieht sich nicht durch
Zeigen auf etwas, sondern durch Zeigen als etwas.
Im mimetischen Aufnehmen des Gegenübers kommt besonders der Kinästhesis,
der Bewegungsempfindung, Bedeutung zu. Sie ist die Voraussetzung für den körperlichen
Nachvollzug, für die analoge Reproduktion des Mitgeteilten,
für jede Art des Begreifens und damit für die Aneignung von
Wissensinhalten und Erkenntnissen. In diesem Sinn wird der Begriff "Kinästhesis"
in meinen weiterführenden Überlegungen zur Ilias verwendet.
Wie intensiv die Kinästhesis mit dem Gesichtssinn und der
Kommunikation, und damit letztlich der daraus sich entwickelnden Sprache in
Verbindung steht, kann man bereits beim erst wenige Stunden alten Säugling
beobachten, der, in ein ihm zugewandtes Gesicht vertieft, exakt dessen
Gesichtsausdruck nachzuahmen imstande ist. Er/sie empfindet sein/ihr Gegenüber
sozusagen körperlich nach, ohne im geringsten über ein Bild von sich
selbst zu verfügen.
"Noch vor der Wort- und Bildschöpfung steht die Gebärde als
erste und direkteste Sprache. Der eigene Körper ist hier das Material, das
Erfahrungen von Welt formt und - fast instinktiv - deutet."(2), sagt die
Kunsthistorikerin Dorothee Bauerle und verwendet dafür den Begriff der "Autoplastik".
Sehen-Kinästhesis-Sprache sind daher auch später in der
Wahrnehmung miteinander verkettet, und diese innige Verbindung aktiviert sich in
beliebiger Richtung, in beliebiger Reihenfolge, z.B. auch als Sprache - Sehen -
Kinästhesis in den Ausführungen des amerikanischen Linguisten Benjamin
Lee Whorf:
"Die Kinästhesis, unsere Empfindungen für Lage und
Bewegung unserer Muskeln und Glieder, ist sicher vorsprachlichen Ursprung.
Dennoch darf man wohl annehmen, sie werde uns durch die sprachliche Verwendung
eines imaginären Raumes und metaphorischer Bewegungsvorstellungen stärker
bewußt."(3)
Auch die Mnemotechnik der antiken Rethoriker arbeitet mit dieser Verknüpfung,
und zwar zuerst in der Reihenfolge Sprache-Sehen-Kinästhesis und danach in
der Reihenfolge Kinästhesis-Sehen-Sprache:
"Alle Formen der Mnemotechnik (ars memoriae) beruhen nun übereinstimmend
auf der Vorstellung, daß das Gedächtnis in seinen Leistungen ganz von
der Einbildungskraft (Imagination, Phantasie) abhängt. Alle Lehrer
der Mnemotechnik empfehlen daher, die Gedächtnisgegenstände in Form
von "Bildern" (phantasmata, imagines) zu visualisieren
und diese Gedächtnisbilder an vorgestellten "Örtern" (topoi,
loci) zu deponieren. Wenn dann der Redner seine Rede hält, kann er
diese Örter durchwandern (pervagare) und auf diese Weise im
Nacheinander die Gedächtnisbilder aktualisieren."(4)
In diesem "Dreisprung" der Wahrnehmung (mit den Etappen Bild-Körper,
Körper-Sprache, Sprache-Bild) entsteht "seelische Beteiligung",
die es ermöglicht diese Wahrnehmungen "menschlicher Geschichte zu
verbinden", also die "Prägung des Bewußtseins", wie
etwa Rudolf zur Lippe es, in Anlehnung an die altgriechische Bedeutung des
Begriffs Ästhetik definiert(5).
"Folge mir, wie ich der Rede Ziel in die Sinne dir lege." (Ilias, XVI, 83)
(1) (H. Weinrich, 1988, S.83)
(2) (D. Bauerle, 1988, S. 26)
(3) (B. L. Whorf, 1963, S. 97)
(4) (H. Weinrich, 1988, S. 90 u. 91)
Vgl. dazu: "Rein sprachliches Denken ist das Musterbild gedankenlosen
Denkens, das automatisch auf das
schon Aufgespeicherte zurüchgreift. Es ist nützlich, notwendig,
aber unfruchtbar. Der Wert der Sprache für
das Denken kann also nicht auf einem Denken in Worten beruhen. Es muß
sich vielmehr um Hilfeleistungen
handeln, deren sich das Denken bedienen kann, während es in einer
geeigneteren Materialsphäre, etwa mit
Vorstellungsbildern,arbeitet.
... Aus der Sprachwissenschaft ist uns bekannt, daß Wörter, die
in ihrer späteren Form nicht auf unmittelbare
Wahrnehmungen hinzuweisen scheinen, dies ursprünglich taten. Viele sind
noch immer unverkennbar
bildlich. ... Man kann sich darauf verlassen, daß die Sinne die
anschaulichen Gegenstücke zu allen
Denkbegriffen liefern können, einfach deshalb, weil diese Begriffe ja
ursprünglich aus der Sinneserfahrung stammen. Noch schärfer ausgedrückt:
das menschliche Denken kann nicht über die Formen hinausgehen, die ihm die
Sinne liefern. (R. Arnheim, 1977, S. 219 und S. 220) - Die Thesen Arnheims
werden freilich erst unter Einbeziehung der Bewegungsempfindung sinnvoll, die
den Streit um die "Vorherrschaft über das Denken"
zwischen Bild und Begriff aufheben kann..
(5) (R. zur Lippe, 1987, S. 17: „Aus (der) altgriechischen Bedeutungsgeschichte
(des Begriffs „Ästhetik“) ist ästhetisch alles, was unsere Sinne beschäftigt,
in uns Empfindungen und Gefühle entstehen läßt und auf solchen Wegen unser Bewußtsein
prägt. Zugleich sind alle Eindrücke, Empfindungen, Wirksamkeiten ästhetische darin,
daß Bewußtsein sie menschlicher Geschichte verbindet. Bewußtsein ist dabei
selbstverständlich im weitesten Sinne seelischer Beteiligung, nicht als "bewußte"
Kontrolle zu verstehen. So wurzelt das Ästhetische in der sich bewegenden und erlebten
Einheit des Lebens und weist hin auf den Anspruch, sie ebenso bewegt und vereinigend
auf allen Stufen der geschichtlichen Weltentwürfe wiederzufinden.“
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