2.2. Lernen: Ausbildung von Gedächtnis durch Einbildung von
Erinnerung
Indem alle drei Bereiche der Wahrnehmung im Erkenntnisprozeß tangiert
werden, kommt es zu einer dauerhaften Wirkung, zu einem Erinnerungsbild, darüberhinaus
zu "Gedächtnis", sowohl zum individuellen Gedächtnis, als
auch zum kollektiven, zum kulturellen Gedächtnis. "Nach Durkheim ist
das soziale Gedächtnis eines, "... dessen Inhalt aus kollektiven
Erinnerungen besteht, durch die Vergangenes in einer Weise wiederhergestellt
werde, daß es auf aktuelle Bedürfnisse zu antworten vermag." "(1)
Ist es der Dreisprung der Wahrnehmung, der einen solchen "Lerneffekt"
gewährleistet?
Psychologie und Psychotherapie beginnen eben die Bedeutung der
Bewegungsempfindung (ergänzend zur visuellen und auditiven Wahrnehmung) für
das Lernen wiederzuentdecken und in der Technik der Kinesiologie nutzbar zu
machen.
In oralen Kulturen war Lernen stets ein Prozeß, der wesentlich alle
sinnlichen Komponenten miteinbezog. Wie aber finden diese Komponenten Eingang in
Texte?
Interessant in diesem Zusammenhang sind "Lehr-Texte" aus dem
Mittelalter, verfaßt in einem kulturellen Stadium zwischen Oralität
und Literalität, die der Erziehung, dem "Lernen" der jungen
Adligen gewidmet waren.
Über das mittelalterliche Lernen im Übergang zur Schriftkultur
schreibt Horst Wenzel unter dem Titel "Lernen durch Teilhabe":
"Im Übergang vom 12. zum 13. Jahrhundert gewinnt die
volkssprachige Literatur zunehmende Bedeutung in einer semi-oralen
Adelsgesellschaft, in der sich Lernen grundsätzlich durch Teilhabe
vollzieht und erst sekundär durch die Schrift: Höfisch-vorbildliches
Handeln lernt der junge Adlige durch Parizipation am höfischen Leben, durch
Nachahmung, indem er hörend und vor allem sehend sich einstellt auf die prämierten
Verhaltensweisen, die ihm vorbildliche Vertreter seines Standes vorleben.
Im Wälschen Gast, der ersten volkssprachlichen Adelslehre,
(...), fordert Thomasin von Zerclaere, daß die jungen Adligen sich höfisches
Verhalten aneignen in der nachahmenden Teilhabe am Leben vorbildlicher Ritter.
(...)
Der geschriebene Text bezieht sich derart auf seine konkrete Antithese:
Thematisiert wird eine textunabhängige Kommunikationssituation, eine
face-to-face-Situation, die mit der verbalen Verständigung zugleich die
Erfahrung des Gegenüber in seiner körperlichen Erscheinung und seinem
Verhalten berücksichtigt.
(...)
Aristokratisches Lernen vollzieht sich demgemäß als Nachahmung
vorbildlicher Körper und Konfigurationen, deren lebendige Erscheinung mit
allen Sinnen aufgenommen wird, doch primär mit den Augen, weil
aristokratischer Status auch primär für die Augen dargestellt wird."(2)
Der Lerneffekt, das was im Gedächtnis bleibt, kann tatsächlich als
eine Folge aus der intensiven , im Sinne des "Dreisprungs" möglichst
vollständigen Wahrnehmbarkeit des Textes betrachtet werden. In anderen
Worten: der Text mußte für den Rezipienten (1.) ausgesprochen
(2.) anschaulich und (3.) begreifbar sein.
(1) (Emile Durkheim, "Les Formes élémentaires de la vie
religieuse", Paris 1960, zitiert nach: D. Bauerle, 1988, S. 35)
(2) (H. Wenzel, 1988, S. 178, 179, 180)
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