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  ILIAS
    Folge mir, wie ich der Rede Ziel in die Sinne dir lege

4.3.Buchstaben und/oder Schriftzeichen/Sprachzeichen.

Jan Assmann sagt über die von ihm behandelten antiken Texte, es "wird natürlich nicht bestritten, daß der Rückgriff auf diese Texte, ja bereits ihre Entstehung ohne Schrift nicht denkbar wären. Aber diese Texte tragen ihre Schriftlichkeit nicht zur Schau, sondern vielmehr ihr bruchloses Hervorgegangensein aus und Wiedereingehen in körperliche, lebendige Stimme und Interaktion."(1)
Für die Ilias ist demzufolge der im Medium Schrift abgebildete Wahrnehmungsprozeß einer, der in der sinnlich intensiven Situation oraler Kommunikation entsteht, und bereits durch das Medium (gesprochene) Sprache geprägt ist.
Ausgehend von der Überlegung, daß die Lautschrift einer doppelt kodierten Abbildung entspricht (Wirklichkeit-Sprache-Schrift), entspricht daher die Sprache der ersten Abbildungsebene.
Die Bilderschriften (Hieroglyphen) sind nun einerseits als Schriftsystem wesentlich komplizierter, aber in ihrer Funktionsweise wesentlich einfacher zu verstehen.
Grundsätzlich kann man davon ausgehen, daß auch sie, wie die Lautschrift, Sprache abbilden, ohne sie jedoch in dem Ausmaß zu abstrahieren. Sie behalten die semantischen Einheiten der Sprache bei.
Es scheint daher möglich über die Bildhaftigkeit der Sprache mehr zu erfahren, wenn man Überlegungen und Beobachtungen anhand der Bilderschrift miteinbezieht.
Ernest Fenollosa stellt in seinen Reflexionen über die chinesische Schrift fest:
"Die frühe Gestalt dieser Schriftzeichen war bildhaft und ihr bildlicher Widerhalt in der Vorstellung hat sich auch bei den später konventionalisierten Zeichen wenig gelockert.
Es ist vielleicht nicht allgemein bekannt, daß die meisten dieser ideographischen Wurzeln eine verbale Grundform der Aktion in sich tragen. Freilich könnte man meinen, daß ein Bild naturgemäß das Bild eines Dinges ist und daher die Wurzelbegriffe des Chinesischen das sind, was man in der Grammatik Substantive nennt.
Eine eingehende Prüfung zeigt jedoch, daß eine große Zahl der ursprünglichen chinesischen Schriftzeichen, sogar die sogenannten Radikale(2), stenographische Bilder von Handlungen oder Vorgängen sind."(3)
Über die Zeichenverknüpfungen in der chinesischen Schrift sagt er weiter:
"Kraft solcher Verknüpfungen erzeugen zwei Dinge, die man addiert, nicht ein drittes, sondern deuten irgendeine grundlegende Relation der beiden zueinander an. (...)
Das Ding als Einzelheit, das ja dem eigentlichen Substantiv entspräche, kommt in der Natur nicht vor. Die Dinge sind nur die Endpunkte, oder besser die Schnittpunkte von Vorgängen, Trennschnitte durch Vorgänge, Momentaufnahmen. Ebensowenig ist eine abstrakte Bewegung, die dem Verb entspräche, in der Natur möglich. Das Auge sieht beides in einem: Dinge in Bewegung, Bewegung in Dingen, Substantivisches und Verbales zugleich (3.1), und auf ebendiese Weise sucht der chinesische Geist sie wiederzugeben."(4)
Daß diese aus der Bilderschrift gezogenen Erkenntnisse für das Verständnis der Sprache, und zwar nicht nur der chinesischen, aufschlußreich sein können, behauptet Fenollosa im folgenden:
"Eine Analyse der indogermanischen Sprachen(5) läßt uns Verdacht schöpfen, daß solche Unterscheidungen (Anmerkung: in die verschiedenen Wortarten: Substantiv, Verb, Adjektiv, ...) nicht in der Natur der Sache liegen, sondern unseligerweise von Grammatikern ausgeklügelt worden sind, um das schlichte poetische Lebensgefühl zu trüben. ... Dazu kommt, daß die ganze indogermanische Sprachentwicklung auf Wurzeln zurückweist, die einfachen Verben im Sanskrit entsprechen, ..."(6)
In der Paarung der Bildzeichen in der chinesischen Schrift sieht schließlich auch Serge Eisenstein eine besondere Potenz:
"Die Sache ist die, daß die Paarung [oder vielleicht sollten wir lieber sagen die Vereinigung] von zwei Hieroglyphen der einfachsten Reihen nicht als ihre Summe anzusehen ist, sondern als ihr Produkt, d.h. als Wert einer anderen Dimension, einer anderen Potenz; für sich entspricht jede einzelne einem Ding, etwas Konkretem, ihre Vereinigung aber entspricht einem Begriff. Die Einzelhieroglyphen zünden zu einem - Ideogramm."(7)




(1) (Assmann, 1988, S. 267)

(2) Unter Radikal versteht man lt. Duden/Fremdwörterlexikon das "sinnbildliche Wurzelelement des chinesischen Schriftzeichens", also etwa das einfache Zeichen für Auge.

(3) (E. Fenollosa, 1963, S. 231)

(3.1) Vgl. dazu: "Vor allem überlebte die primäre Oralität im schriftlich festgehaltenen griechischen Sprachverhalten selbst. Das griechische Drama kennt (...) einen expressiven Dynamismus des Wortes und des Gedankens. Schwerlich wird man in den Stücken eine durch "ist"-Kopula hergestellte Beziehung zwischen einme Begriffssubjekt uns einem Begriffsprädikat finden. Wenn überhaupt benützt, fungiert das Wort "sein" vornehmlich in der oral dynamischen Sphäre, wo es Gegenwart, Macht, die Situation und ähnliches bedeutet." (Havelock, 1992, S.153)

(4) (ebenda)

(5) zu denen sowohl die altgriechischen Dialekte, in denen die Ilias verfaßt ist, als auch das moderne Deutsch der für diese Arbeit verwendeten Übersetzung gehören.

(6) (E. Fenollosa, 1963, S.241)

(7) (S. Eisenstein, 1963, S. 265)

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