1.2. Sozialpsychologische Aspekte:
Distanz und Kontinuität sind zwei wesentliche Aspekte der Erinnerung.
Jan Assmann erklärt die Funktion dieser zur Erinnerung gepaarten Widersprüche:
"In einer Welt totalisierender Gleichschaltung ermöglicht
Erinnerung die Erfahrung des Anderen und die Distanz vom Absolutismus der
Gegenwart und des Gegebenen. In einem allgemeineren, weniger politischen Sinne
gilt das aber auch für den Druck, den der Alltag als solcher auf die
soziale Wirklichkeit ausübt und der immer in Richtung Vereinheitlichung, "Eindimensionalität"
und Komplexitätsreduktion geht."(1)
Wie problematisch Alltagsdruck sein kann, erleben wir unter ähnlichen
Voraussetzungen auch in unserer Kultur. Die daraus resultierenden Bedürfnisse
stellen sich ähnlich wie vor über 2000 Jahren dar.
Eine Analyse der Werbeästhetik, die auf diese Bedürfnisse abzielt,
um Produkte zu verkaufen, kann diese Behauptung bestätigen. Wenn
beispielsweise einfache, aus der Massenproduktion stammende Gegenstände des
täglichen Gebrauchs zu Trägern von "individuellem Lebensstil"
stilisiert werden, so sehen wir darin ein (freilich pervertiertes) Motiv aus dem
Epos:
"Man bemerke, wie in dieser Dichtung [der Ilias] so einfache
Verrichtungen wie Essen und Trinken bedeutend und symbolisch werden."(2)
Ein Beispiel aus der Ilias, das als Abstract zu einem Werbespot (etwa für
Produkte aus biologischer Landwirtschaft) tauglich wäre:
"Diese stellte zuerst den Tisch hin, den schönen,
Dunkelfüßig und gut geglättet, aber auf diesen
Einen erzenen Korb mit Zwiebeln als Kost zu demTranke
Und auch gelben Honig und Mehl von heiliger Gerste,
( ... )
Darin mischte ihnen die Frau, ...,
Vom pramneischen Wein und rieb mit eherner Raspel
Ziegenkäse darauf, mit weißem Mehl ihn bestreuend."
(Ilias , XI, 628 - 640)
"Defizienz-Erfahrungen", wie sie der Alltagsdruck
produziert, lassen "die Vorstellung eines Heroischen Zeitalters jenseits
von Niedergang und Bruch entstehen"(3)
Hier liegt ohne Zweifel auch eine Gefahr , wie wir sie in Gestalt von
Faschismus und Chauvinismus vor Augen haben.
Was die Ilias jedoch sowohl im Unterschied zu trivial-materialistischen als
auch faschistischen Variationen dieses Themas auszeichnet, ist ihre
bemerkenswerte, an Naivität grenzende Offenheit und ihr Realismus.
"Das eigentümlich Homerische ist ein Besonderes. Es ist das
Menschliche, letztlich Untendenziöse." sagt Uvo Hölscher. Und über
den prägenden Einfluß von Homer auf den Hellenismus bemerkt er: "Es
ist doch wohl ein ganz einziges Phänomen, daß man der Jugend ein Buch
wie die Ilias in die Hand gab, das (noch einmal Burckhardt) "ein völlig
objektives, sittlich sehr freies und theologisch und politisch tendenzloses
Weltbild beibrachte"."(4)
"Tendenzlos" ("völlig objektiv und tendenzlos" ist
aus heutiger Sicht selbstverständlich zu relativieren) darf aber auf keinen
Fall mit "unpolitisch" verwechselt werden. Jan Assmann betont unter
Berufung auf Adorno, Marcuse und Tacitus die vor allem im politischen Sinn
potentiell befreiende, subversive Kraft der kontrapräsentischen(5)
Erinnerung. Eben diese Kraft sieht der Kunsthistoriker Aby Warburg in der Pathosformel
der antiken (bildenden) Kunst, die die Künstler der Renaissance als
Sprengmittel gegen mittelalterliche Rigidität übernahmen, und die "man
international und überall da mit dem Herzen verstand, wo es galt,
mittelalterliche Ausdrucksfesseln zu sprengen"(6). Das heißt, "die
Menschen der Renaissance übten die Emanzipation als sinnlich körperliche
Bewegungsakte"(7) nach antikem Vorbild. Warburg war gerade an dem
sozialpsychologischen Moment interessiert, das sich durch die Pathosformel in
der Renaissancekunst manifestierte, den Bruch mit überlieferten Denk- und
Machtstrukturen und die Eroberung neuer Freiräume möglich machte. Der
Entwurf zur antiken Pathosformel Warburgs aber findet sich bereits in der Ilias.
"Was ist sie also? Ein Kriegsgedicht, heißt es, in alter und
neuester Zeit. Wir stoßen uns an der Verherrlichung des Kriegerischen, an
der Grausamkeit der hundertfachen Tode. Aber vom Geist der Ilias faßt man
damit nur wenig; und wenn man sie ein Gedicht gegen den Krieg nennen wollte, träfe
man ihren Sinn wenigstens nicht schlechter. Es ist wahr, der Krieg wird nicht
hinterfragt. Aber er wird auch nicht glorifiziert; "(8)
(1) (J. Assmann, 1992, S. 86)
(2) (U. Hölscher, 1994, S. 392)
(3) (J. Assmann, 1992, S. 79).
(4) (U. Hölscher, 1994, S. 69)
(5) Unter kontrapräsentischer Erinnerung versteht Assmann eine
Erinnerung, die den Bruch zwischen dem "einst" und dem "jetzt"
bewußt macht.
(6) (A. Warburg, zitiert nach M. Warnke, aus: W.Hoffmann, 1980, S. 66 u. S. 68)
(7) (Martin Warnke in: W. Hoffmann, 1980, S. 132)
(8) (U. Hölscher, 1994, S.392)
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