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  ILIAS
    Folge mir, wie ich der Rede Ziel in die Sinne dir lege

DE-/REKONSTRUKTIONEN II

Disproportionale Visionen.

Das Disproportionale entsteht durch Verzerrung, also etwa durch Vergrößerung oder Verlangsamung in der Abbildung. In der Sprache der technischen Bilder: Zoom, Makroaufnahme oder Zeitlupe. Im folgenden bediene ich mich daher der Termini aus der Filmsprache um speziell auf die Parallelen zu visuellen Effekten einzugehen.


1. Einfache Vergrößerung:

dem riesigen Hektor (Ilias, XI, 820)
Hektor der große mit funkelndem Helme (Ilias, VIII, 160)
der gewaltige Hektor (Ilias, VIII, 473)
Achill, den gewaltigen (Ilias, XXII, 92)
die Pelische Esche, Die gewaltige (Ilias, XXII, 133 - 134)
Schlug er zu mit dem großen Schwert und nahm ihm das Leben (Ilias, XX, 459)
Aias kam nun heran und trug den Schild einem Turm gleich, (Ilias, VII, 219)

Dadurch, daß etwas bekannt Großes oder jemand, von dem man schon weiß, daß er groß ist, durch besondere Bezeichnung zusätzlich groß genannt wird (etwa in der Weise einer Tautologie) wird das oder der Betreffende noch vergrößert. Verstärkt wird dieser Effekt mitunter durch Nachstellung des Attributs, z.B. nicht nur "der große Hektor" sondern: "Hektor, der große".
In der Bildsprache entspricht das der Aufnahme eines (großen oder hohen) Objektes von unten.

Das Prinzip der Vergrößerung ist - einmal eingeführt - auch auf weniger anschauliche Wirkungen übertragbar, z.B. beim Redner:

"Stand er und schaute zu Boden, den Blick auf die Erde geheftet,
( ... )
Leicht hättest du gesagt, daß er unverständig und stumpf sei.
Aber sobald er der Brust die große Stimme entsandte
( ... )
Hätte kein anderer Sterblicher sich mit Odysseus gemessen.
Da bestaunten wir nicht mehr so die [Anm: kleinere] Gestalt des Odysseus."
(Ilias, III, 217 - 224)


2. Der Aspekt der Bewegung in Verbindung mit der Vergrößerung wird durch Gewicht ausgedrückt:

"und hemmte die schwere Hand am silbernen Schwertgriff, ..." (Ilias, I, 219)
"Leer nur folgte der Helm der schweren Hand des Atriden, ..."
(Ilias ,III, 376)
"Und Aineas kam als erster drohend geschritten,
Nickend mit schwerem Helm." (Ilias, XX, 161 - 162)
"durch die Schulter drang da die Lanze Wuchtig;" (Ilias, XIII, 519 - 520)
"Nicht umsonst aus der wuchtigen Hand die Lanze geflogen,
Von den Argeiern einer empfing sie im Leibe" (Ilias, XIV, 455 - 456)

Auch der Aspekt des Gewichts kann zur Sichtbarmachung von Unsichtbarem verwendet werden, wie z. B. in der häufigen Formulierung "die wuchtigen Worte".

2. Eng mit dem Aspekt der Gewichtigkeit verbunden ist - wie in der Physik - der Effekt der Verlangsamung:
Verzögerung in der Bildbeschreibung, entsprechend der Zeitlupe, verdeutlicht das Gewicht, das eine Person, ein Gegenstand oder eine Handlung hat.

"Und da holten sie aus mit den wuchtigen Händen und fielen
Beide einander an, daß die schweren Fäuste sich mischten"
(Ilias, XXIII, 686 - 687 )
Ganz in den Händen zerbrach ihm die schattenwerfende Lanze,
Wuchtig und groß und fest und beschlagen (Ilias, XVI, 801 - 802 )


3. Details entsprechen der gesteigerten Nähe und Intensität eines Ausschnitts oder einer Makroaufnahme:

"und schritt mit langsam wechselnden Knien" (Ilias, XI, 547)
"Und es berührten die Roßschweifhelme mit leuchtenden Bügeln
Sich, wenn sie nickten" (Ilias ,XIII, 132 - 133)
"Aufrecht standen die Haare ihm an den biegsamen Gliedern"
(Ilias, XXIII, 359)
"Diesen würgt der bestickte Riemen am Halse, dem weichen"
(Ilias, III, 371)

In Nahaufnahmen visualisiert sind daher auch Metaphern wie z. B.:

"und es schwoll der Zorn und füllte das Zwerchfell ganz schwarz an" (Ilias, I, 103 - 104 )

Oder (akkustische) Klang-Bilder wie:

"Dröhnend stürzte er hin, es rasselten um ihn die Waffen." (Ilias, IV, 504)


(Anm: Durch den Ausdruck "dröhnend" kommt beispielsweise in diesem Fall noch der gewichtige Zeitlupeneffekt hinzu.)


4. Durch Details in der Beschreibung, gekoppelt mit Verlangsamung und Vergrößerung, entsteht der dynamische Effekt des Zooms:

" ... nickte gewährend mit schwarzen Brauen Kronion,
Und die ambrosischen Haare des Herrschers wallten nach vorne
Von dem unsterblichen Haupt;" (Ilias, I, 528 - 530)


5. Sprachliche Motive in der Art eines Schnitts:
(Der "Schnitt" ist jeweils durch einen Schrägstrich markiert.)

"Aber Idomeneus stieß darauf mit dem grausamen Erze
Erymas grad in den Mund, / und hindurch fuhr die eherne Lanze
Innen bis unter das Hirn, die weißen Knochen zerspaltend. /
Rausgeschleudert wurden die Zähne, es füllten sich beide
Augen an mit Blut; er spie es aus Mund und aus Nüstern
Offen heraus; und des Todes schwarze Wolke umfing ihn."
(Ilias, XVI, 345 - 350)
"So wie die Staude des Mohns im Garten zur Seite das Haupt neigt
Unter der lastenden Frucht und Regengüssen im Frühling: /
Also neigt er zur Seite das Haupt, das vom Helme beschwerte."
(Ilias, VIII, 306 - 308)

Dasselbe Prinzip in der Übertragung auf unsichtbare, innere Prozesse:

"der Zorn, ...
... , der noch viel süßer als niedergleitender Honig /
Sich in der Brust der Männer vermehrt, wie Rauch, wenn er aufquillt;"
(Ilias, XVIII, 108 - 110)
" ... das ward dem Peliden zur Qual, und im Herzen
Wog er hin und her / in der haarigen Brust / den Gedanken, ..."
(Ilias, I, 188 -189 )


6. Beispiele der Anwendung, in denen sich die verschiedenen Darstellungsmethoden überlagern:

1. Sequenz:
"Denn es begegnete Phoibos dir in der heftigen Feldschlacht, Furchtbar.
(...)
Hinter ihn trat er und schlug ihn auf Rücken und Schultern, die breiten,
Oben herab mit der Hand; da wurden ihm schwindlig die Augen.
Und vom Kopfe warf ihm den Helm ab Phoibos Apollon;
Da aber rollte mit Rasseln hinab zu den Füßen der Pferde
Helm und Tülle des Knaufs; von Staub und Blute besudelt
Wurden die Haare des Schweifs (...)
Ganz in den Händen zerbrach ihm die schattenwerfende Lanze,
Wuchtig und groß und fest und beschlagen; doch von den Schultern
Fiel der Schild mit dem Schildgurt, dem breitgesäumten, zu Boden;
Und den Panzer ihm löste Zeus´ Sohn, der Herrscher Apollon.
Schrecken betäubte die Sinne und lähmte die glänzenden Glieder."
(Ilias, XVI, 788 - 805)

2. Sequenz:
All seine Wasser erregte er, wallend, und wälzte die vielen
Toten, die in ihm waren (...)
gleich einem Stiere
Brüllend (...)
(...)
Furchtbar stieg um Achilleus jetzt die schwellende Woge,
Und die Strömung fiel in den Schild ihm (...)
Doch der Gott ließ ab nicht, der große, und schwang sich
Dunkelwogend ihm nach (...)
folgte ihm, hinterher strömend mit großem Getöse (...)
Schlug ihm die große Woge des zeusentsprungenen Stromes
Über die Schultern herab; ...,
... , und unten bezwang ihm der Fluß die Kniee,
Und er spülte ihm strömend den Sand weg unter den Füßen.
(...)
Und erhob sich hochaufwallend gegen Achilleus,
Brausend mit wirbelndem Schaum und Blut und treibenden Leichen.
(Ilias, XXI, 235 - 325)

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