DE-/REKONSTRUKTIONEN I
I. Annäherung
Nun ist der Körper des Kriegers, der in der Ilias beschrieben ist,
nicht irgendein beliebiger Körper, sondern ein genau "einzubildender"
Körper, dessen Merkmale und Erscheinungen deshalb auch anatomisch ("Anatomie":
Zergliederung) genau dargestellt sind. Und um der geforderten Wachsamkeit
gerecht zu werden, ist die Art und Weise, wie er vergegenwärtigt
wird, auch genau nachzuvollziehen.
Es ergeben sich drei Schritten der Annäherung:
1. Schritt - aus einer eher allgemeinen Perspektive, aus angemessener
Entfernung (Distanz):
a)"jung", "schön", "groß", "stark/schnell"
und "langhaarig". (häufige Attribute)
Diese Attribute beinhalten zwar einen Maßstab, an dem der Krieger
gemessen werden kann, allerdings einen relativen. Sie bilden ein "offenes
System", das sich anpassen kann, wenn von konkreterem die Rede ist.
So ist etwa Nestor alt, ohne in speziellen Situationen anderen an "heroischer
Erscheinung" nachzustehen:
"So sprach er und umhüllte sodann die Brust mit dem Leibrock,
Band sich unter die glänzenden Füße die schönen Sandalen
Und befestigte mit einer Nadel den doppelten, weiten
Purpurfarbenen Mantel mit dichter Wolle darüber,
Nahm den wehrhaften Speer, den mit scharfem Erze gespitzten."
(Ilias, X, 131 - 134)
Ein anderes Beispiel:
Odysseus ist nach Bemerkungen Priamos´ und Antenors bei der Mauerschau, die
ihn mit Menelaos vergleichen (vgl. Ilias, III, 193 und 210 - 211), wohl nicht
ganz so groß (wörtlich: "niedriger an Haupt" aber im Sitzen
"würdevoller"), wohl auch nicht ganz so jung, was die vom Jüngling
Antilochos ausgesprochene, scherzhafte Bezeichnung "Rohgreis" (Ilias,
XXIII, 791 ) andeutet.
Diese Abweichungen erzeugen eine sehr lebendige Spannung, die zeigt, daß
lediglich die situative Perspektive, der momentane Blickwinkel zählt. Und
der ist bei dieser Art von Vergleichen auch im wörtlichen Sinn ein
distanzierter, wie z.B. bei der sogenannten Mauerschau. Zeitlich betrachtet
handelt es sich um "Pausen-Situationen". Es wird in solchen Momenten
nicht gehandelt, sondern körperliche Aktionen werden reflektiert oder
bereiten sich vor.
Der Vergleich wird demzufolge in der Ilias nicht an einem konkreten,
absoluten Wert, sondern innerhalb einer vorübergehenden Konstellation von
Personen gezogen und hat lediglich theoretische Bedeutung, jedoch keine
unmittelbar wirkliche.
b) "erzgewandet", "wohlgeschient", "erzgepanzert",
"glänzend im Erze" und "stierschildtragend". (häufige
Attributverbindungen)
Die stereotypen Formeln, die den Krieger bzw. die Krieger immer wieder mit
diesen Attributen nennen, schaffen in der Vorstellung eine starke, unlösbare
Verbindung zwischen Körper und Ausstattung. Das heißt, "gerüstet"
als primäre Eigenschaft verstanden, daß der Körper des Kriegers
als ein erweiterter Körper zu verstehen ist, der sich unter anderem auch
auf Rüstung und Waffen als Körperteile ausdehnt.(1)
2. Schritt - aus einer spezielleren, näheren, intimeren Position, die
bereits auf körperliche Details eingeht, und Kontraste hervortreten läßt:
einerseits: die zottige Brust, die blonde Mähne, die breiten Schultern,
die wuchtige Hand, die schweren Fäuste, die dunklen Brauen, ... (häufige
Attributverbindungen)
und andererseits: der weiche Hals, der zarte Nacken, die schimmernde Brust,
die weiße Haut, die glänzenden Glieder, der schöne Leib ... (häufige
Attributverbindungen)
Diese Bilder sind zwar im Bezug auf den Körper, die Situationen und
Funktionen seines In-Erscheinung-Tretens, wesentlich spezieller als die vorigen,
aber noch universeller auf alle Krieger gleichermaßen angewendet. Sie
zeigen den Körper in der Aktion. Diese Situationen sind bereits so
unmittelbar präsent, so aktuell, daß keine Differenzierungen
mehr möglich bzw. notwendig sind.
Wesentliches Spannungselement ist der Gegensatz zwischen den Komplexen
stark-wuchtig-dunkel-schwer-zottig-... und zart-weich-schimmernd-weiß-glänzend-schön-...
Diese Eigenschaftskomplexe bilden sich kumulativ. Sie sind beide gleichermaßen
im Text verteilt und häufen sich bei gezielter Sammlung erst allmählich an.
3. Schritt - das "Hineinsehen" in das Körper-Innen:
a) metaphorische Bilder von Empfindungen und Emotionen:
"der Zorn, ... , der noch viel süßer als niedergleitender Honig
Sich in der Brust der Männer vermehrt, wie Rauch, wenn er aufquillt;"
(Ilias, XVIII, 108 - 110)
"sein Wort biß Hektor ins Zwerchfell" (Ilias, V, 493)
"Dessen Sinne sind nicht gehörig, noch ist das Denken Schmiegsam
in seiner Brust"
(Ilias, XXIV, 40 - 41 )
An sich unanschauliche Vorgänge im emotionalen Bereich werden nie
abstrakt benannt, sondern stets in zum Teil aufwendig geschilderten Bildern
deutlich gemacht. Hier verläuft der Dreisprung am direktesten über die
Stationen Sprache-Bild-Körper.
b) die Bilder des "geöffneten", destruierten Körpers:
"Und es traf ... Polypoites ...
Damasos mit dem Speer durch die ehernen Wangen des Helmes;
... , die eherne Spitze
Drang hindurch und zerbrach den Knochen, es färbte sich blutig
Innen das ganze Gehirn" (Ilias, XII, 182 -186 )
"damit traf er Aineias am Hüftgelenk, dort wo der Schenkel
Sich in der Hüfte dreht, was auch die Pfanne genannt wird,
Und zermalmt ihm die Pfanne, und beide Sehnen zerriß er,
Und es schürfte die Haut der rauhe Stein." (Ilias, V, 305 - 308 )
"Und er warf ihm den scharfen Speer am Haupt in den Nacken
Zwischen den Zähnen zerschnitt ihm das Erz von unten die Zunge;
Niederstürzend hielt er das kalte Erz mit den Zähnen."
(Ilias , V, 73 - 75 )
Interessanterweise folgt der Blick auf seiner Wanderung durch den Körper
genau der Waffe. Es handelt sich um eine Art der "Introspektion", für
die es damals kein Modell gab, die "in Wirklichkeit" gar nicht möglich
war. Sie ist kein Röntgenbild, entspricht aber jener technischen Möglichkeit
der Medizin, mittels einer Sonde ein Geschehen im Inneren des Körpers zu
beobachten, etwa bei der Bronchoskopie.
(1) Vgl. dazu Dorothee Bauerle, 1988, S. 28: "Doch der menschliche Körper
ist nicht das einzige Organ für den Ausdruck. Der Mensch schafft sich Geräte,
die die Funktion seines Körpers erweitern und ergänzen. In dieser
Erweiterung des Ichs sieht Warburg den Versuch einer Grenzüberschreitung
zwischen Ich und Nicht-Ich, zwischen Körper und Außenwelt."
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