4. BILD III. Schriftbild / Sprachbild
4.1. Das Alphabet.
Die griechische Kultur gilt als die erste, eigentliche Schriftkultur.
Das griechische Alphabet hat sich aus dem phönizischen, einer
Silbenschrift, entwickelt, und darf in seiner Art als revolutionär
betrachtet werden: es ist die erste, eigentliche Lautschrift.
Von den vorher existierenden Schriften unterscheidet sie ihr hoher
Abstraktionsgrad:
"Ein Schriftsystem, das gesprochene Sprache in Atome (Konsonanten und
Vokale) zergliedert und damit in Bestandteile, die unterhalb der
Artikulations-Einheiten der gesprochenen Sprache liegen, ein solches
Schriftsystem vermag mit äußerster Geschmeidigkeit beliebige
Lautfolgen zu transskribieren.
Die Zertrümmerung von Sprache durch das Alphabet, das durch semantische
und phonetische Einheiten hindurchstößt, ermöglicht eine
Reorganisation von Elementen, die dann dem Duktus gesprochener Sprache näher
kommt als alle anderen Notationssysteme."(1)
Die Hieroglyphenschrift der Ägypter entspräche demnach der
Wiedergabe semantischer Einheiten, die babylonische Keilschrift, eine
Silbenschrift(2), der Wiedergabe phonetischer Einheiten. Beide waren
komplizierter, umfangreicher und daher schwieriger zu lernen, als das
griechische Alphabet.
Den Verlust an sinnlicher Präsenz gegenüber der Bildlichkeit der
Hieroglyphen, macht die griechische Schrift als offenes, einfaches und
praktisches System in der Anwendbarkeit wett.
Die "Zugänglichkeit" einer Schrift steht in Zusammenhang mit
ihrer Verwendung innerhalb der Kultur, aus der sie hervorgegangen ist. Die
griechische Schrift war kein Instrument der Macht, weder das einer irdischen,
wie in Mesopotamien oder Ägypten, noch das einer göttlichen, wie in
Israel. Der Raum, den die griechische Schrift erschließt, ist zunächst
Freiraum, "der weder durch die weisunggebende Stimme eines Herrschers noch
eines Gottes besetzt ist"(3), was das Eindringen der Oralität in die
Schriftkultur nach Jan Assmann ausschlaggebend begünstigte.
Sehr einfach in der Handhabung, jedoch abstrakt, das heißt komplex und
unanschaulich in ihrer Funktionsweise, erinnert sie in diesen Eigenschaften an
das Medium Computer.
Ihre Abbildungen der Realität sind doppelt kodiert: nach Aristoteles
stellt sie dar, was "in der Stimme ist", also die Sprache, während
die Sprache ihrerseits darstellt, was "in der Psyche ist", also die
Wahrnehmungen.
(1) (J. Assmann, 1988, S. 260)
(2) Silben sind phonetisch wahrnehmbare Einheiten der gesprochenen Sprache.
(3) (J. Assmann, 1988, S. 269)
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