4.2.Technik der Abbildung und/oder Modus der Einbildung.
Auf das übertragen, was man als tatsächliche Bilder bezeichnen könnte,
etwa Zeichnungen, gemalte Bilder, Fotografien, könnte man die griechische
Lautschrift am ehesten mit der Fotografie vergleichen. Vilém Flusser
spricht von Bildern als Abstraktionen der vier Raumzeit-Dimensionen in die
Zweidimensionalität der Fläche, und der menschlichen Fähigkeit
diese Symbole (die Bilder) wieder entschlüsseln, lesen zu können: der
Imagination. Imagination, das heißt Einbildungskraft, ist für ihn die
Voraussetzung Bilder "lesen" zu können. Es sind also bereits zwei
verschiedene Bildebenen angesprochen, das ("äußere") Bild
selbst und die Einbildungskraft (das "innere" Bild).
Bilder, insbesondere technische Bilder wie die Fotografie, also direkte
Abbildungen der Wirklichkeit, könnten - im Unterschied zur Schrift - zunächst
als einfach kodiert betrachtet werden. Eine solche Annahme wird aber durch
folgendes Beispiel in Frage gestellt:
In einer Filmdokumentation über prähistorische Felszeichnungen in
der Sahara, wurde auch von einer heute existierenden, etwas südlich von
diesem Gebiet lebenden Gesellschaft berichtet, deren gegenwärtige Kultur
mit jener der Felszeichnungen ungefähr übereinstimmt.
Das WissenschafterInnenteam, das zuvor die Felszeichnungen untersucht und
dokumentiert hatte, hielt sich, um die realen Verhältnisse einer solchen
Kultur aufzuzeichnen, eine Weile bei diesen Menschen auf. Während des
Aufenthaltes entstanden einige Fotos von Mitgliedern der Sippe und ihrem Lager.
Die Fotos wurden später dem Sippenoberhaupt und einigen seiner Angehörigen,
die noch nie derartige Bilder gesehen hatten, gezeigt, aber der zu erwartende
Effekt der Überraschung, des Staunens und der Faszination blieb aus. Die
Fotos sagten ihnen nichts, sie konnten darauf nichts erkennen.
Ganz anders war es - nun zur Überraschung und zum Erstaunen der Forscher -
mit den Fotos der Felszeichnungen. Das Sippenoberhaupt beteiligte sich sofort
lebhaft an den Bildern. Er kommentierte sie sogar detailiert und war in der Lage
individuelle Besonderheiten zu erkennen, die sich den Wissenschaftern nie
erschließen hätten können. So konnte er Aussagen über
die Wohlhabenheit, den Zustand der Besitztümer oder die gute bzw. schlechte
Organisation jener Sippe zu treffen, deren Lager vor tausenden von Jahren auf
den Zeichnungen dargestellt worden war. Zu derartigen Eindrücken hätte
ein/e WissenschafterIn schon allein deshalb nicht kommen können, weil er/sie weder
in der Lage wäre, noch die Absicht hätte, etwas anderes als das
Allgemein-Gültige, Objektive zu entschlüsseln, ganz abgesehen davon,
daß es ihm/ihr im Zusammenhang mit einer solchen, fremden Kultur an lebendiger
Erfahrung, an der Voraussetzung für die Fähigkeit sich mimetisch in
das Bild hineinzuversetzen, fehlen dürfte.
Ergänzend und erhellend ist zu dieser Situation folgende Bemerkung
eines Arapaho-Schamanen:
"The Whites dont catch anything when they take photographs, and
therefore it is meaningless to photograph."(1)
Ein Aspekt, den die Fotografie als technisches Medium in der direkten
Abbildung tatsächlich nicht einzufangen imstande ist, ist nun zum Beispiel
die richtige Proportion eines Objektes in der Wahrnehmung, wie sie der
russische Filmregisseur Serge Eisenstein anhand einer Kinderzeichnung
beschreibt. Jene Proportion, die für das Objekt daher notwendig ist, um als
Bild anschaulich zu sein:
"Das disproportionale Anschaulich-Machen eines Geschehens ist uns
angeboren und darum durchaus organisch. Professor Luriya vom Psychologischen
Institut in Moskau zeigte mir einmal eine Kinderzeichnung "Ofenanzünden".
Darin ist alles in ziemlich genauem Verhältnis und mit großer
Sorgfalt dargestellt. Brennholz. Ofen. Schornstein. Was aber sollen die
Zickzacks da in jenem riesigen Rechteck in der Mitte? Es stellt sich heraus, daß
es die Zündhölzer sind. Weil das Kind die Wichtigkeit dieser Zündhölzer
für den abgebildeten Vorgang berücksichtigt, schafft es für sie
einen entsprechenden Maßstab."(2)
Außer der Proportion ("riesig") der Zündholzschachtel
in dem geschilderten Beispiel, fällt noch auf, daß in den "Zickzacks"
möglicherweise über die Objekte (Zündhölzer) hinaus eine
Bewegung, ein Ereignis in der Zeit, etwa wie ein Blitz, dargestellt ist. Auch
das scheint in der Fotografie für sich genommen nicht möglich zu sein.
Das Fotografieren verfährt - als technischer Vorgang betrachtet - in
Bezug auf eine gegebene Situation im Verhältnis zur authentischen
Wahrnehmung ähnlich wie die Lautschrift. Ihre Eigenschaft, jeden einzelnen
Lichtreflex aufnehmen und festbannen zu können, ist vergleichbar der
Eigenschaft der Lautschrift, jeden einzelnen Konsonanten und Vokal, aus dem sich
Sprache zusammensetzt, abzubilden. In beiden Fällen liegen diese Fähigkeiten
unterhalb unserer Wahrnehmungsschwelle. Noch deutlicher wird dieser Vergleich
bei der digitalen Bildgenerierung.
Fotografieren - technisch betrachtet - ist keine Kunst. Auch Schreiben ist -
technisch betrachtet - keine Kunst. Beide Verfahren sind unanschaulich.
Dennoch hat die Kunst sich das Medium Fotografie angeeignet, wie sie sich
vorher die Lautschrift nutzbar gemacht hat, um Wahrnehmungen der Wirklichkeit
zu manifestieren.
Und zwar genau unter Berücksichtigung jener Differenz, die besteht
zwischen dem, was wir wahrnehmen, und dem, was sich fotografisch abbildet.
Insoferne sind auch die Fotografien doppelt kodiert in den Schritten
Objekt-Abbildung und Abbildung-Wahrnehmung.
Durch die Entwicklung und Verwendung neuer Medien verändert und
erweitert sich so das Verständnis der Wahrnehmungen selbst. Künstlerische
Arbeiten sind daher Manifestationen der Wahrnehmungsprozesse aus jeweils ganz
spezifischen Perspektiven.
(1) (A. Hultkrantz: "Spirit Lodge: A North American Shamanistic Seance",
in: "Studies in Shamanism", Stockholm 1967, S. 43, zitiert nach H. P.
Duerr, 1984, S. 143)
(2) (S. Eisenstein, 1963, S. 270)
|