Die Politik des Als-Ob
Günther Jacob

Warum spricht man vor allem über "Kultur", wenn man über Nazis sprechen möchte?

Im Juni 1935 fand in Paris der "Erste internationale Schriftstellerkongreß zur Verteidigung der Kultur" statt. Obwohl ein sehr großer Teil der dort vertretenen 250 Kulturarbeiter/innen in enger Verbindung zur kommunistischen Arbeiterbewegung stand, ihnen also die "soziale Frage" viel vertrauter war, als das heute bei Popjournalisten, Kunstkritikern und linken Feuilletonisten der Fall ist, wurde auf diesem Kongreß ausschließlich über "Kultur" gesprochen. Damals wurde bereits ein Reaktionsschema sichtbar, das sich seither häufig wiederholte: Immer wenn es politisch "enger" wird, wenn rechte Wahlsiege sich häufen und Nazis Bomben legen, steigern auch Kulturlinke ihre Aktivitäten und verteidigen mit aller Entschlossenheit vor allem eines - die Kultur .
Die Einberufung des Kongresses ging auf Anregungen der Kommunistischen Internationale zurück und stellte eine praktische Umsetzung der 1934 beschlossenen Einheitsfrontpolitik zur Abwehr der faschistischen Gefahr dar.
Eingeladen waren alle bekannten "progressiven Schriftsteller". Die auf Bündnispolitik eingestimmten Kommunisten wollten ausdrücklich keinen "Kongreß revolutionärer Schriftsteller", denn der Kampf gegen den Faschismus konnte ihrer Meinung nach nur "im Namen der Ideen der echten Menschlichkeit" gewonnen werden. Linksradikale, antinationale und "volks"ferne Stimmen waren nicht erwünscht. Autoren, die sich als "proletarisch-revolutionäre Schriftsteller" oder als "Experimentdichter" verstanden, kamen, von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen, nicht zu Wort. Kapitalismuskritik wurde zugunsten einer Annäherung an etablierte "Kulturgrößen" aufgegeben. Die Brücke zu ihnen sollten zuvor noch als idealistisch eingeschätzte humanistische "Werte" bilden: Wahrheit, Vernunft, Aufklärung, Geist, Menschenrechte, Nation.
Erich Weinert zum Beispiel, bekannt als Texter des "Roten Wedding" und des "Heimlichen Aufmarschs", wollte nun von "proletarischer Kultur", Klassenkampf und dem Unterschied zwischen Politik und Kultur nicht mehr reden: "Dieser Kongreß steht im Zeichen der Verteidigung der Kultur. Die Kultur verteidigen heißt, ihre Widersacher und Verfälscher aus der Welt schaffen. Aber ihre Feinde sind identisch mit den Feinden der Erkenntnis, des Menschenrechts und der Gesinnung. Unsere kulturellen Feinde sind gleich unseren politischen Feinden."

Die Nazis wollten die "nationale Kultur" gegen den "Kulturbolschewismus" verteidigen, die "humanistisch" gewendeten Linken verteidigten dieselbe "nationale Kultur" bzw. das "kulturelle Erbe" gegen "Ungeist" und "Barbarei". Obwohl noch auf der Tagesordnung vorgesehen, wurde das Thema "Klasse und Kultur" auf dem Kongreß ausgeklammert, während zu dem Stichwort "Nation" doppelt so viele Autoren als zu jedem anderen Thema sprachen. Dabei stand vor allem eine, vom Glauben an das vom "genialen Künstler" zu verteidigende "Kulturerbe" beflügelte, alternative Vaterlandsverteidigung hoch im Kurs. Anna Seghers forderte: "Entziehen wir die wirklichen nationalen Kulturgüter ihren vorgeblichen Sachverwaltern. Helfen wir Schriftsteller am Aufbau neuer Vaterländer, dann wird wieder das alte Pathos wirklicher Freiheitsdichter aufs neue gültig werden."
Es gab nur wenige Gegenstimmen. Die gründlichste Kritik, die sich heute übrigens wie eine Kritik am kulturlinken Konzept der Political Correctness liest, kam jedoch von Bert Brecht: "Da kommt die Barbarei vom Barbarentum, die Armut von der Powerté. Sie sprechen also von vernachlässigter Erziehung des Menschengeschlechts. Irgend etwas wurde da versäumt oder konnte in der Eile nicht gemacht werden. Man muß es jetzt nachholen. Man muß gegen die Roheit die Güte einsetzen. Man muß die großen Worte hervorrufen, die unvergänglichen Begriffe Freiheitsliebe, Würde, Gerechtigkeit, deren Wirkung historisch verbürgt ist. Was geschieht? Den Hinweis darauf, daß er roh sei, beantwortet der Faschismus mit einem fanatischen Lob der Roheit. Auch der Faschismus findet die Erziehung vernachlässigt. Er verspricht sich sehr viel von einer Beeinflussung der Gehirne und der Festigung der Herzen. Auch jene von uns, die das Grundübel in der Roheit, der Barbarei erblicken, sprechen nur von Erziehung, von Eingriffen in die Geister - keinen anderen Eingriffen jedenfalls. Es besteht immerfort bei ihnen die Gefahr, daß sie Grausamkeiten des Faschismus als unnötige Grausamkeiten betrachten. Sie halten an den Eigentumsverhältnissen fest, weil sie glauben, daß zu ihrer Verteidigung die Grausamkeiten des Faschismus nicht nötig sind."

Wie kommt es nun, daß fast immer, wenn Medien- und Kulturarbeiter/innen über das nachdenken, was im Programmheft zu diesem Symposion "Strategien und Taktiken der Rechten" genannt wird, sie sofort auf "Kultur" zu sprechen kommen? Warum spricht man vor allem über "Kultur", wenn man über Nazis sprechen möchte? Weil die Nazis neuerdings selbst über "Kultur", "kulturelle Hegemonie" und "Kulturkampf" sprechen? Aber das taten sie immer schon.
Der Terminus 'Kulturkampf', der einmal die Auseinandersetzung zwischen dem preußischen Staat und der katholischen Kirche (1873 bis 1887) bezeichnete, wurde in den letzten Jahren von der sogenannten Neuen Rechten dazu benutzt, um die angeblich existierende 'linke Hegemonie' im kulturellen Feld zu denunzieren und den politischen Paradigmawechsel zu betreiben, gesellschaftlich zu verankern und durchzusetzen. Es fragt sich jedoch, welche Bedeutung diese Zielsetzung für die reale Rechtsentwicklung hatte? Führen die "Neurechten" wirklich einen erfolgreichen "Kulturkampf", und ist die Aufwertung rechter Positionen überhaupt das Ergebnis "kultureller Kämpfe"? Was hat man sich eigentlich unter "Kulturkampf" vorzustellen? Ist es ein luftiger "ideologischer" Streit, ein Tauziehen, bei dem sich rechte und linke Kräfte an den verschiedenen Enden kräftig ins Zeug legen? Mußten die "kleinen Leute" mühevoll überzeugt werden, damit die Abschaffung des Asylrechtes möglich wurde? Hängt von ihrer Zustimmung wirklich so viel ab?
Weil Autoren wie Habermas, liberale Gegner der Rechten und die sogenannte Kulturlinke sich auf die "neurechte" These vom "Kulturkampf" einlassen, gerät aus dem Blick, daß gerade die "Mitte" sich auf nationalistischer Grundlage neu formiert hat: Die deutsche "Wiedervereinigung", die NATO-Osterweiterung, der "Eingriff" in Ex-Jugoslawien, der im September 1993 von der Kohl-Regierung vorgelegte Bericht "Zukunftssicherung des Standortes Deutschland", in dem das Verlangen nach Lohnverzicht wieder völkisch begründet wird, der redselige deutsche Opferkult anläßlich des 50. Jahrestags der Befreiung, das gewerkschaftliche Verlangen nach einem "Bündnis für Arbeit und Standortsicherung", die forcierte Kulturalisierung des (dem Lebensstilparadigma unterworfenen) Sozialen etc., gehen zweifellos mit einer geradezu "kulturrevolutionären" Umwertung von Begrifflichkeiten einher, mit denen noch in den 80er Jahren der "nationale Konsens" beschrieben wurde.
Aber so wie die Armut nicht von der Powerté kommt, kommt diese "Kulturrevolution" nicht von der Kultur. Sie kommt von der Politik, denn sie wurde erst durch den Sieg über den nominalsozialistischen Gegner des Westens möglich. Diese weltweit relevante Veränderung der Machtverhältnisse geht dem, was jetzt als "Kulturkampf" beschrieben wird, voraus. Mehr noch: Ohne diese Veränderungen hätte dieser Begriff überhaupt nicht wieder derart in Mode kommen können, weil, solange es die beiden Blöcke noch gab, alle relevanten Konflikte grundsätzlich als politische Konflikte definiert waren. Erst nach dem Ende dieser Konfrontation konnten kulturalistische Positionen, die es auch vorher schon gab, an Gewicht gewinnen. Und erst mit der Auflösung der Roten Armee wurde es auch möglich ,daß zum Beispiel "Antifaschismus" zum Stichwort der deutschen antiserbischen Propaganda werden konnte und sich die "FAZ" bei dem Wort "Sozialpartnerschaft" an "gewerkschaftliche Blockwarte" erinnert fühlt.

Es ist nicht zu übersehen, daß der gesellschaftliche Konsens der 80er Jahre — das sozialpartnerschaftliche Sicherheitsbündnis gegen den Osten — derzeit mit einem gewaltigen Aufwand, bei dem alle Mittel der "Mediengesellschaft" zum Einsatz kommen, auf die neuen "Sachzwänge" des Weltmarktes umgestellt wird. Wenn einst als "progressiv" geltende Begriffe wie "Sozialpartnerschaft", "Zivilgesellschaft", "Friedensmission", "Gedenken an den 8. Mai 1945", "Asyl" oder "Frauenrechte" durch die herrschende Politik so transformiert und mit neuer Bedeutung versehen werden, daß sie den aktuellen "nationalen" Ansprüchen entsprechen, dann sind das sehr bedeutende Veränderungen.
Andererseits hat der "Kulturkämpfer" Heiner Geißler bereits in den 70er Jahren die Pazifisten für die deutschen Konzentrationslager verantwortlich gemacht. Wenn heute nach Geißlers Muster der "ideologische" Bestand früherer Jahre durchforstet wird, dann muß daran erinnert werden, was solche "Paradigmenwechsel" erst möglich machte: Die Erlangung der vollständigen staatlichen Souveränität des vergrößerten Deutschlands und die deutsche Dominanz in vielen ehemaligen Ostblockstaaten. All das hat eine politische Situation geschaffen, die im Rückblick wie ein kultureller Wandel erscheinen mag, die auch mit einem solchen Wandel zu tun hat, nicht jedoch dessen Produkt ist. Und der Anteil der "neurechten Kulturkämpfer" an diesem Wandel ist als eher marginal einzustufen. Die wichtigeren Stichworte hat der Deutsche Bundestag geliefert. Er konnte sich dabei der Zustimmung der großen Mehrheit seiner Staatsbürger stets sicher sein.
Der "Kulturkampf", von dem hier gesprochen werden soll, ist eine ziemlich praktisch-politische Angelegenheit. Dabei sind die staatlichen und privatkapitalistischen "Argumente" so "überzeugend", weil alles was heute noch wie ein Diskussionsangebot aussieht - vom veränderten Ladenschlußgesetz bis zum Bundeswehreinsatz in fernen Weltgegenden - morgen schon Regierungsprogramm sein kann. Deshalb sollte die rechte Interpretation dieser Veränderungen als "Kulturkampf" nicht durch die Übernahme dieses Begriffs oder durch die Verwendung sinngemäßer Begriffe wie "kulturelle Politik" unterstützt werden. Angemessen ist lediglich der Terminus "Kulturalisierung", weil er daran erinnert, daß politische, soziale, ökonomische oder technische Phänomene lediglich als kulturelle diskursiv konstruiert werden. Durch diesen kulturalistischen Diskurs hindurch reproduzieren sich die strukturellen gesellschaftlichen Machtverhältnisse.

Der Begriff "Kulturkampf" verdunkelt mehr als er erhellt, und dabei zeigt sich die ganze Problematik eines auf die Artikulation von Ideologien und Hegemonieformen orientierten Ansatzes: Er fragt nicht danach, wie, wann und weshalb Herrschaft sich in Ausbeutungsmacht (Ökonomie) und Staatsmacht (Politik) trennte und weshalb den Subjekten das Feld der symbolischen Macht, auf dem die sozialen Unterschiede als symbolisch-kulturelle Differenzen ausgetragen werden, als Kultur erscheint. Ähnlich wie bei einigen Linken, die zwischen Wertgesetz und Bundestagsgesetz keinen Unterschied erkennen wollen, können auch viele Kulturlinke zwischen einer Maßnahme des Unternehmerverbandes, einem Beschluß der Regierung oder einem Artikel von Botho Strauß nicht unterscheiden.
Wo die einen alles "der Ökonomie" zuschlagen, schlagen die anderen alles "der Kultur" zu. Der politische Staat erscheint dabei als neutrales Terrain, auf dem die Kämpfe ausgefochten werden. Ich denke, daß sich dahinter ein biederer Demokratismus verbirgt, der jedoch - solange Kulturarbeiter/innen ihre politischen Präferenzen nicht explizit machen - unsichtbar bleibt, weil politische Positionen unter der Hand in kulturelle Positionen verwandelt werden. Oder in "philosophische": So ist z.B. das "gegenkulturelle" PC-Konzept in Deutschland nur eine an Habermas angelehnte Variante "kommunikativen" Aushandelns, die wiederum einen politischen Reformismus verbirgt. Anders gesagt: Ähnlich wie bei dem Pariser Schriftstellerkongeß, kann die Praxis, die aus diesen "kulturellen" oder "philosophischen" Ansätzen folgt, keine radikale sein, sondern nur die Forderungen nach "solidarischem Verhalten", "moralischen Konventionen" und Schutz der "kulturellen Identitäten."

Der wichtigste Unterschied zwischen West und Ost bestand nach allgemeiner Überzeugung in den gegensätzlichen Eigentums- und Distributionsverhältnissen: Hier Privateigentum und Markt - dort Staatseigentum und Plan. Die "Kulturfront" war demgegenüber eine Nebensache. Nicht unwichtig zwar, aber doch nicht entscheidend. Welchen Stellenwert sie hatte, kann vielleicht ein Zitat zur gegenwärtigen Neuausrichtung des Goethe-Instituts verdeutlichen: "Über drei Jahrzehnte hatte die Kulturarbeit Aufgaben, die sich nach dem Zusammenbruch des sowjetischen Imperiums völlig anders darstellen: Der Systemvergleich mit dem Osten ist entfallen. Vom Fetisch - und auch von der Heuchelei - der "Verständigung" befreit, ändert sich die Vorstellung von dem, was Kultur denn sein soll" ("FAZ").
Das ökonomische, politische und militärische Gewicht Deutschlands wird heute weniger mit politischen Kategorien wie "Freiheit", "Markt" oder "Westen" in Zusammenhang gebracht, sondern häufiger mit "Kultur". Sogar die Definition Europas steht wieder zur Disposition. Gehören Rußland, die Türkei und der "Balkan" noch dazu? Für solche Abgrenzung bzw. Selbstdefinitionen sind kulturalistische Diskurse konstitutiv - von der Orientausstellung über die Schlagzeile zur "Russen-Mafia" bis zum Bericht über "Türken-Rap". Es käme daher darauf an, so wie es z.B. Edward Said in seinen Studien macht, über den Zusammenhang von Kultur und Imperialismus zu sprechen, also darüber, wie durch bestimmte Diskurse ökonomische und militärische Überlegenheit (nach westlichen Maßstäben) als - real wirksame - kulturelle Überlegenheit konstruiert wird. Heute haben wir es allerdings immer häufiger mit der Umkehrung dieses Ansatzes zu tun. Aus der Feststellung, daß verschiedene Diskurse den Rahmen bereitstellten, in dem das Politische und das Soziale kulturalisiert wird, wird dann geschlossen, daß vor allem über Kultur und nicht mehr über den Imperialismus gesprochen werden muß.

Die "Kultur ist heute so wichtig wie nie"-Rhetorik der Kulturlinken ist ein Arbeitsbeschaffungsprogramm. Die an sich sehr wichtige Kenntnis neuerer Medien- und Kulturtheorien, poststrukturalistischer Literaturtheorie, Cultural Studies etc. wird deshalb nicht mehr mit den durchgesetzten Universalismen (Weltmarkt, Staat, Lohnarbeit, Ethnisierung, Patriarchat) zusammengedacht. Die Beschäftigung damit neigt letztlich dazu, "Kultur" zu privilegieren, diese ohne den kapitalistischen Kontext zu denken, Widerstand zu "Kultur" zu machen und die Kritik der Politischen Ökonomie, wie auch "traditionelle" linke politische Aktivitäten, mitsamt den Linken, die so etwas noch betreiben, abzuwerten. Aus dieser Sicht gibt es kaum etwas, was so antiintellektuell, platt und kulturell unwürdig erscheint, wie ein linkes Flugblatt zur deutschen EU-Politik oder zum Streit um den Flächentarifvertrag. Was sich nicht in irgendeiner Weise ästhetisieren läßt, ist aus dieser Perspektive nicht wirklich erzählbar.

Fortsetzung nächstes Heft
Oktober