So schaut's aus

Stevie-Cartoon

Marillenknödel und Anarchie


Ein großer Vorteil auf dem Land zu wohnen ist es, daß zu den schönen Jahreszeiten, vor allem im Sommer, die städtischen Freunde und Freundinnen zu dir kommen. Somit bist du es, der sich die Anreise in überfüllten zugigen Zügen, auf staubigen Straßen oder per schweißtreibender Radtour erspart.
Während sich deine FreundInnen noch abmühen, zu dir zu kommen, kannst du dich noch in Ruhe auf das bevorstehenden Einfallen deiner Lieben vorbereiten. Gemächlich werden die kostbaren Bildbände kindersicher verstaut oder diverse Werkzeuge (am besten möglichst grobschlächtige) effektvoll plaziert - wie zufällig liegengelassen, schließlich bist du es, der am Land wohnt, das verpflichtet dich schon zu einem gewissen herben Charme, und man will doch niemand enttäuschen.


Ich bin einer dieser (glücklichen) Landbewohner, die zur Sommerzeit für ihre Selbstdarstellung über ein ganzes Haus, und zur Not auch noch über einen knorrigen alten Nachbar verfügen können, während die städtischen Besucher sich mit dem, was in ihren Rucksäcken bzw. Kofferräumen Platz findet, begnügen müssen. Und alljährlich rücken sie auch bei mir an, all jene, die einst auszogen, um den beschränkten und dumpfen Provinzialismus hinter sich zu lassen. So auch heuer. Und wie alle Jahre war zu erwarten, daß wir die Tage damit verplempern, uns darauf zu einigen, was wir eigentlich jetzt miteinander anfangen sollen. Die einen wollen baden gehen, allerdings nicht in die nahegelegenen Flüsse, weil diese, sozusagen traditionell, saukalt sind, sondern lieber in zwar etwas entferntere, aber dafür angenehm warme Seen.
Die anderen möchten ein wenig wandern, wenn sie nun schon einmal aufs Land kommen - "Baden gehen! Also bitte - das hätten sie auch zuhause machen können in weitaus großzügiger angelegten Badeanlagen mit Beach-Volleyball-Feldern, Wasserrutschen und allem, also baden gehen - ich bitte Euch - kommt überhaupt nicht in Frage." Wieder andere meinen, daß sie jetzt endlich Urlaub haben und sich überhaupt keinen Streß machen wollen, weder mit Baden noch mit Wandern, am besten überhaupt nicht bewegen; außerdem sei es doch ganz nett hier. "Wenn irgendwer einen Sonnenschirm aufstellt und ein paar Sessel holt, können wir uns an diesen wirklich originellen und urigen Steintisch setzen und ein wenig plaudern - immerhin haben wir uns ja ein ganzes Jahr schon nicht gesehen."

Ein weiterer alljährlicher Grund für stundenlange Diskussionen war bisher der Speisezettel. Da prallen wirklich Weltanschauungen aufeinander. Bei dem, was ich mir da alljährlich mitmache,wundert es mich, daß um diese Frage noch keine Kriege oder zumindest bewaffnete Scharmützel entflammten. Die grundsätzlichen Differenzen zwischen Vegetariern, Makrobioten, Trennkostlern, Fleischfressern, Bio-Freaks, degenerierten Konsumkindern, die sich am liebsten nur von Fast-Food, Cola und Geschmacksverstärkern ernähren möchten, meine ich da noch gar nicht, damit hat man das ganze Jahr über zu tun, und hat damit leben gelernt. Die Erstellung eines kollektiven Urlaubsspeiseplanes muß mit weitaus komplizierteren Bedürfniskonstellationen fertig werden. Hier gilt es die verschiedensten Interessenslagen unter einen Hut zu bekommen bzw. in einen Kochtopf zu bringen.

Bei den Streitereien, was man denn nun kollektiv als Urlaubsschmaus auf den Tisch bringe, geht es nämlich nur vordergründig darum, was die einzelnen Leute essen wollen. Der/die GastgeberIn will ihre Gäste ordentlich bewirtet wissen, am besten sollen sie immer nur knapp an der Gallenkolik vorbeigehen und auf jeden Fall pro Tag zwei Kilo zulegen; mancher Gast wiederum will zeigen, welche Entdeckungen er draußen in der Welt gemacht hat und ist gar nicht mehr aus der Küche herauszubekommen, die er geschwind zum Brückenkopf für seine kulinarische Diktatur umfunktioniert hat; andere wieder meinen partout, beim Essen ihren erlesenen und weltgewandten Geschmack beweisen zu müssen, oder durch das ständige Einfordern besonders gesunder Speisefolgen ihr Körperbewußtsein oder überhaupt ihr eigentliches Sein als kritische Konsumenten zu manifestieren.

Aber für mich sind diese Streitereien ab heuer vorbei. Bisher neigte ich nämlich entweder dazu, alles lang und breit diskutieren zu lassen, um letztendlich einen schwindligen Kompromiß, mit dem alle unglücklich sind, zu finden, oder mit dem Pochen auf meine Eingeborenenwürde (wer ist schon gerne einE ImperialistIn) den Speiseplan einfach zu diktieren. Da ich mich in letzter Zeit wieder verstärkt mit Organisationsformen beschäftige, in denen ich politisch/kulturell/gesellschaftlich leben und arbeiten möchte, habe ich mir überlegt, eine kleine Simulation stattfinden zu lassen. Wir leben nämlich in einer Welt der Simulationen. Alles was nur geht wird simuliert. ManagerInnen nehmen für einen Batzen Geld an Planspielen teil und simulieren Entscheidungsfindungsprozesse. Auch das kürzlich unterzeichnete Atomtest-Stopp-Abkommen ist nur möglich, weil es jetzt endlich leistungsstarke Rechner gibt, die Atomtests auch umweltschonend im Computer stattfinden lassen können. Dieser Atomteststopp ist nämlich keineswegs ein Sieg irgendwelcher NGO' s oder gar ein Sieg der Vernunft, sondern beruht auf der einfachen "betriebswirtschaftlichen" Tatsache, daß Computersimulationen weitaus günstiger sind (beinahe zeitgleich mit der Unterzeichnung des Moderatoriums beauftragten die USA den IBM-Konzern mit der Entwicklung eines "Superrechners"). Natürlich gibt es auch Ereignisse, die man nicht im vorherein simulieren kann, wie etwa der Golfkrieg.. Hier wollten die westlichen Miltiärblöcke wissen, wie solche Kriege führbar und gewinnbar sind. Der Golfkrieg war mehr ein großangelegter Truppen- und Waffentest, die müssen auch manchmal sein, um neue Parameter für die Simulationsprogramme zu ergründen. Vor allem wollte "man" wissen, wie man durch Informationssperren und bewußte Fehlinformation der Medien eine eigene, von den Invasionären konstruierte "Wirklichkeit" schaffen kann, mit der dann die beabsichtigten Manöver zu rechtfertigen sind 1).
Mir ging es bei meinem kleinen "und was essen wir heute"- Planspiel aber nicht um Kriegsstrategien oder die Ausbreitung atomarer Wolken. Ich wollte wissen, was passiert, wenn man die Leute einfach werkeln läßt, ohne zeitraubende Besprechungen, ohne Beschlußfassung und vor allem: kompromißlos. JedeN der/die einen Vorschlag hatte, was wir essen sollten, bestärkte ich in seinen/ihren Absichten. "Ich hätte Lust auf etwas Deftiges - was haltet ihr von gegrillten Schweinsmedaillons?" - super, am besten Du fährst gleich einkaufen! "Eigentlich ist gerade Marillensaison, und ich habe ein wunderbares Rezept für Marillenknödel 2) " - ausgezeichnet, die Küche gehört Dir! "He, es ist Sommer, was wir brauchen ist Speiseeis. Eis in rauhen Mengen, wieder einmal so richtig dekadent unsinniges Zeugs in uns hineinschlemmern" - wunderbar, das ist Deine Unbekümmertheit für die ich dich so liebe, ich schaffe gleich Platz im Tiefkühlfach. Alle waren sie glücklich! Vergessen war die sommerliche Hitze, und es wurde fröhlich dahingewerkelt. Ich für meinen Teil beschränkte mich darauf, mit den Kindern Grimassen zu schneiden, und zu beobachten, was nun geschah.
Bisher war ich ja gewohnt, in ausdiskutierten Strukturen mit längerfristiger Planung und abgestimmten Handlungsabläufen zu arbeiten. Sodaß ich mich ständig zurückhalten mußte, um nicht geradezu reflexhaft koordinierend einzugreifen.
Die drängende Frage für mich an diesem Abend war nicht so sehr, was ich wohl zu essen bekommen werde, sondern vor allem, was ich als sturer (Vulgär-)Marxist von diesen chaotisch-anarchistischen Entscheidungs- und Organisationsstrukturen lernen kann, und inwieweit diese Küchensimulation für meine organisationstheoretischen Überlegungen verwendbar seien.
Ich habe nämlich schon des längeren den Verdacht, daß ich mir in der Frage: wie will ich mich organisieren (sowohl in meinem banalen Leben, wie auch in meiner kulturellen/politischen/gesellschaftlichen Arbeit) einiges aus anarchistischen Theorien entlehnen sollte.

Um es kurz zu machen: alle Speisen wurden (da unkoordiniert) gleichzeitig fertig. So aßen wir Marillenknödel, gegrilltes Fleisch und Eis durcheinander. Da alle Speisen für sich sehr liebevoll bereitet wurden und von hoher Qualität waren, war die Speisefolge zwar ungewöhnlich, dies tat aber dem kulinarischen Genuß kaum einen Abbruch.
Die Ausbeute für meine organisationstheoretischen Überlegungen kann auch ganz kurz zusammengefaßt werden. Für solche sehr offene und auf die Erfüllbarkeit möglichst vieler unterschiedlicher Interessen bedachte Organisationsformen braucht man zwar einen Saumagen, aber wenn man den hat, kann man sich aufs Köstlichste amüsieren.


1) Mittlerweile dürfte ja allgemein bekannt sein, daß jene Geschichte, die die Weltöffentlichkeit erschütterte und mit der man die Invasion in den Irak moralisch rechtfertigte, frei erfunden und von einer amerikanischen Werbeagentur gemanagt war. Es handelte sich damals um die Behauptung (die auch mit Filmmaterial und Augenzeugenaussagen belegt wurde), daß die irakischen Soldaten in kuwaitischen Geburtenkliniken Säuglinge aus den Brutkästen nehmen und auf den Boden werfen würden.
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2) Pro viertel Kilo Topfen nimmst Du ein Ei, 50 dag Butter, 50 dag Grieß, 50 dag Mehl (griffig wenn´s geht), ein wenig Salz und Semmelbrösel in rauhen Mengen und Extrabutter zum Bröselanrösten.
Verrühr` den Topfen mit den Eiern, Grieß, Butter (die Du am besten zergehen läßt), Mehl und dem Salz. Diese Masse läßt Du eine gute halbe Stunde stehen, damit der Grieß quellen kann (die Konsistenz kannst Du mit Mehl oder Milch den Knödelformerfordernissen anpassen). Die Quellzeit des Topfens kannst du zur Sichtung und Auswahl der Marillen, sowie zum Anrösten der Brösel nützen.. Wenn Du lieber einen Joint rauchst, geh bitte aus der Küche, der Teig, so fürchte ich, leidet unter dem Qualm.
Mach Dir die Hände naß, schlag die Marillen in den Teig ein und forme formschöne Knödel. Diese schmeißt Du dann in das gesalzene Knödelwasser, das leicht brodeln sollte. Nach etwa 10 Minuten bis einer viertel Stunde sind die Knödel fertiggekocht. Nimm sie aus dem Wasser und wälze sie in den angerösteten Bröseln. Die Knödel mit viel Extrabrösel, Staubzucker und zerlassener Butter servieren. Ich persönlich trinke gerne Milch dazu, aber das kann man halten wie man will. An besagten Abend bekamen wir mit Puddingpulver gebundenes Kirschkompott dazu - absolut barbarisch, aber schmackhaft.
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September 96


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