Walter Kohl

KRIEG. EIN ENDE.

Was in der Heimat geschieht in dieser Zeit, weiß mein Vater nicht. Die Gemeindechronik, in der ich suche, gibt auch keine Auskunft. Nur kurze, aus allen eventuellen Zusammenhängen gerissene Mitteilungen. 1941 kaufen Vermögensverwalter den Stiftsgrund. Daß dies bedeutet, daß sich die lokalen und regionalen Nazi bedient haben, ähnlich der Arisierung jüdischer Geschäfte, ohne dem aber einen Namen zu geben, wird nicht erläutert. Man nennt nur simpel den Vorgang: Vermögensverwalter kaufen den Stiftsgrund. In den Jahren nach 1945 wird zwar kurz erwähnt, daß dem Orden Grundbesitz rückerstattet wurde, nicht vermerkt wird, auf welche Art dies geschehen ist, wer die "Vermögensverwalter" waren und was aus ihnen geworden ist.
Die Berichterstattung der Gemeindechronik verdünnt sich weiter und weiter. Die Gemeinde hat einen Steinbruch erworben, ist die einzige Eintragung im Jahr 1942, im darauffolgenden Jahr wird berichtet vom Ankauf eines Grundstückes, das als Schulgarten dienen soll, von der am 1. Juni erfolgten Auflassung des Bessaraber-Lagers im Stift und von der an dessen Stelle vorgenommenen Einrichtung einer technischen Hochschule.
Das Jahr 1944 kommt überhaupt nicht vor.

Als die "großen Zeiten" zu Ende gehen, wird die lokale Geschichtsschreibung ein wenig ausführlicher. Vorsichtig zwar, aber doch. Das Jahr 1945 beginnt in der Gemeindechronik mit der Erwähnung von Widrigkeiten, die erste Eintragung besagt: "Kriegslage: Im Februar erfolgte eine teilweise Schulsperre infolge des fortschreitenden Einfliegens feindlicher Flugzeuge."
Am 11. April wurde ein Militärlazarett im Stift eingerichtet. Daß das eine Bedeutung für die ortsansässige Bevölkerung hatte, steht nicht in der Chronik. Der derzeitige Schriftführer, der jene Zeit als Kind erlebt hat, erzählt es mir: Man hat die Kinder zum Schlafen ins Stift gebracht, wegen der ständigen Fliegeralarme. Wegen der Luftangriffe auf das nahe Linz. Tagelang ist er dort gesessen, er nennt es jetzt Bunker, und ist nicht herausgekommen an die frische Luft.

Dann das Ende: Am 4. Mai 1945 rücken amerikanische Truppen aus dem oberen Mühlviertel gegen Rottenegg und Gramastetten vor, sagt die Chronik. Es gibt Geschützfeuer aus Bauernhäusern, das bis nach Wilhering, auf die andere Seite der Donau, zu hören ist.
Der Chronist: Die Kinder werden wieder in das Stiftslazarett gebracht.
Die Chronik: Am 5. Mai erreichen die amerikanischen Truppen Wilhering. Flüchtlingskolonnen aus dem Mühlviertel überqueren die Donau, denn "es wurde bekannt, daß die Russen das Mühlviertel besetzen würden." Und: "Es war ein überwältigender Anblick."

Was für ein Wahnwitz sich in Wahrheit abgespielt hat, verschweigt die Chronik. Der jetzige Chronist kann sich erinnern: Die Flüchtlingsströme wogen innerhalb weniger Tage hin und her. Die Amerikaner rücken von Rottenegg und Grammastetten gegen die Donau vor. In Wilhering haben sich Wehrmachtssoldaten verschanzt, die mit Artillerie über die Donau feuern. Bewohner von Wilhering und hunderte von umherirrenden Soldaten, die nicht mehr in diese vollkommen sinnlosen letzten Gefechte verwickelt werden wollen, und die - wenn schon, denn schon - in amerikanische Gefangenschaft geraten wollen, überqueren den Strom. Ein endloses Hin und Her von überladenen Zillen, tausende queren die Donau bei Ottensheim.
Zwei Tage später ist das großdeutsche Artilleriefeuer vorbei. Eine neue Nachricht verbreitet sich rasend schnell unter den geflohenen Zivilisten und den streunenden Soldaten: Das Mühlviertel würden die Russen besetzen. Eine gewaltige Fluchtwelle in der Gegenrichtung erfaßt die Menschen, die Soldaten und zivilen Männer aus durch Jahre hindurch ausgiebig geschürtem Grauen vor den sibirischen Lagern, die Frauen aus Angst vor Vergewaltigung. Der tausendköpfige Menschenzug setzt erneut über die Donau, diesmal von Norden nach Süden.

Der Chronist macht eine Pause. Es war eine wüste Zeit, sagt er, und: Seltsam, daß in der Chronik nicht mehr darüber steht.
Keine Erklärungen über politische Vorgänge, nur die lapidaren Mitteilungen: "Bürgermeister Kremaier Franz wurde im Mai 1945 mit dem Zusammenbruch seiner Funktion enthoben. Ottensamer Alois wurde am 15. Mai 1945 wieder eingesetzt." Genauso lapidar, wie es sieben Jahre zuvor festgehalten worden war: "Bürgermeister Ottensamer Alois, am 18. Dezember 1934 gewählt, wurde am 12. März 1938 seiner Funktion enthoben. Kremaier Franz, Landwirt, wurde am 13. März 1938 zum Bürgermeister eingesetzt und vom Landrat am 25. Jänner 1939 ernannt."
Im Gemeindegeschichtsbuch ist damit der Umbruch, das Ende des Tausendjährigen Reiches, auch schon abgetan. Absatzlos folgt das Jahr 1946, mit einer einzigen Meldung: Im Juni wurde die erste Kartoffelkäfer-Vernichtungsaktion in der Gemeinde durchgeführt.

Der Krieg hat alles und doch nichts verändert im Dorf. Wenn vor dem Krieg irgendetwas Gröberes geschehen war in den Bosheitsnächten, und es geschah meistens so Grobes, daß sie die Gendarmerie geholt haben, fiel der Verdacht sofort auf die Bande, der mein Vater angehörte. Da ist der "Schantinger" gekommen, der Posteninspektor, hat herumgesucht. Und wen nahm er sich dabei vor? Ja, der Julie ihren Buben! Zu den anderen, den Söhnen der Bauern und des Krämers, hat er sich nicht getraut. Aber zur Julie ihrem Buben schon.
"Der hat mir öfters eine Flasch'n gegeben, daß es mich geschmissen hat."

Nach dem Krieg stehen sie dort beisammen, wo die jungen Burschen immer schon gestanden sind, bei der Linde am Dorfplatz. Zufällig kommt dieser Herr Inspektor vorbei, grüßt und fragt, wie es geht. Die anderen begrüßt er mit Namen und Handschlag. Meinen Vater blickt er so komisch an.
Brauchst mir die Hand gar nicht geben, sagt der, weil wenn du mir heute eine Flasch'n gibst, da schaust du dich aber anders an. Der Gendarm weiß nicht recht, was er tun soll, schließlich geht er, als ob er es nicht gehört hätte.
Als ob die letzten sieben Jahre im Dorf nicht vorgekommen wären, so benehmen sich alle. Das Wegschauen ist schon wieder - oder noch immer - das Wichtigste. Denn wenn man wollte, könnte man die Spuren des Dritten Reichs finden, wo man nur hinschaut. Groß und überdeutlich sind sie zu sehen. Mein Vater hat sie gesehen, er erzählt mir von den Gewändern der Bauern. Die haben gleich nach "dem Umbruch" das Hals über Kopf verlassene RAD-Lager geplündert.
"Haben das ganze Dreckszeug heimgeschleppt."
Ihre Frauen bearbeiten jeden Fetzen Stoff mit Nadel und Faden. Die Bauern, auch die, die keine Nazi waren, tragen Jahre später noch die Stiefel der Lagerbewacher, und ihre Anzüge sind umgenähte Uniformen der Reichsarbeitsdienstler. Umgearbeitet auf Steireranzüge.

In den ersten Wochen nach Kriegsende ist noch der Wille vorhanden, die Geschehnisse zu erledigen. Die Opfer einer Prügelorgie im Hof des Dorfwirtshauses erstatten Anzeige beim Bezirksgericht in Linz. 1937 hatte die Heimwehr die illegalen Nazis aus den umliegenden Dörfern, die ja jeder kannte, hier zusammengetrieben und verprügelt. Eineinhalb Jahre später revanchierten sich die nunmehrigen Machthaber von der SA; jetzt wurden die Hahnenschwänzler zusammengetrieben in genau demselben Hof und bis aufs Blut malträtiert. Gleich nach dem Krieg sind ja alle Nazi angezeigt worden, sagt mein Vater. Die Verhandlung findet allerdings erst ein paar Jahre später statt, die Gerichte haben enorm viele Verfahren zu bewältigen, unendlich viele "Kleinigkeiten aus der Nazizeit".
Mein Vater geht zu dieser Verhandlung. Der Richter fragt den großen Holzhändler und Nachkriegs-Vizebürgermeister, der damals am meisten geschlagen worden ist, und der auch gleich nach dem "Zusammenbruch" die Anzeige erstattet hat: Na, Herr G., wieviel Holz haben sie denn schon wieder gehandelt mit dem Herrn B., weil Sie sich an nichts mehr erinnern können? Der Herr B. ist einer der Anführer der Nazis gewesen. Der Herr G. weiß jetzt nämlich von nichts mehr. Er und der Herr B. sind schon wieder Freunderl, die Nazis sind schon wieder integriert im Dorfleben, der Herr B., der frühere Ortsgruppenleiter, hat schon wieder was zu sagen in der Gemeinde, und er kann dem Holzhändler das eine oder andere Geschäft zukommen lassen.

Alle können sich an nichts erinnern. Die Standardantwort heißt: Ich weiß nicht, wie oft hingeschlagen wurde, und ich weiß nicht, ob es der war oder der war, der mich geprügelt hat. Die Opfer sagten das!
Die Schuld kommt auf lauter solche, die nicht mehr greifbar sind. Ohne sich abgesprochen zu haben, sagen Schläger und Geschlagene dasselbe aus: Die im Krieg Gefallenen waren es; zugeschlagen, zugestochen, hingetreten haben nur die, deren Namen ein paar Jahre später auf dem neuen Kriegerdenkmal stehen.
"Die Verhandlung war ein Witz."

(Auszug aus dem Roman "Spuren in der Haut",
Edition Geschichte der Heimat, Grünbach, 1995)


Walter Kohl
geb. 08. 02. 1953 in Linz
Weißdornweg 1, 4040 Puchenau

Volksschule, Mittelschule, Matura 1971, abgebrochenes Studium (Betriebswirtschaft), Autovermietungsangestellter, derzeit Journalist. Verheiratet, zwei Kinder.

Werkliste:
Roman "Katzengras", Ed. Neunzig, Verl. Ennsthaler, Steyr '93
Roman "Spuren in der Haut", Ed. Geschichte der Heimat, '95
Prosabeiträge in zahlreichen Anthologien, Veröffentlichungen in "Literatur und Kritik", "rampe", "Facetten", "erostepost", "Literatur aus Österreich", "Lichtungen" etc.
Hörspiel "Die Saugruft", ORF OÖ, gesendet am 19. 6. '94
Einakter "Sonst wird dich", Uraufführung am 2. 4. '95 am Landestheater Linz
Theaterstück "Arbeit. Krokodilsbraut", Uraufführung am 1. 5. '95 in einer Linzer Straßenbahn
Jugendstück "Dagi Delphin & die Skater", Koproduktion mit R. Habringer, Uraufführung Mai '96 im Hof-Theater, Linz
Video-Projekt "heimat zuerst!" als Oberösterreich-Beitrag zur Frankfurter Buchmesse '95

2. Jury-Preis beim "Max-v.-d.-Grün"-Literaturwettbewerb, Linz '92
Anerkennungspreis beim "bene"-Literaturpreis, Wien '94
Dramatikerpreis des Landestheaters OÖ, Linz '95


JUNI 96

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