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Montag 29 Mai 1995
9.00 Uhr vor dem Hauptbahnhof von Odessa. Bei der Einfahrt ziemlich bediente
Garnituren gesehen. Auf der Strecke kaum gefilmt, weil die Bahnlinie überwiegend
in einer Art Korridor aus Laubbäumen verläuft. Ausserhalb dieses
Laubwaldsaumes erstrecken sich die riesigen Felder der Agrarindustrie.
Der schmale Streifen innerhalb des Korridors wird von Kleinbauern genützt.
Kleine Äcker, Wiesen, die mit der Sense gemäht werden, Beiwagenmaschinen
mit Heu beladen.
Im Gang des Waggons ein Deckenlautsprecher, der sich nicht ausschalten
lässt. Die Fenster alle verriegelt. Hätte einen Dreikantschlüssel
benötigt.
Dustlos geht telefonieren. Unsere Kontaktperson ist der Künstler
Alex Roitburd. Halten ein Auto an und geraten in eine Polizeikontrolle.
Ein einzelner Beamter. Er schaut die Fahrgestellnummer an. Unser Fahrer
beteuert und wir wollen ausserdem ans Ziel. Der Beamte fährt mit.
Alex wartet schon vor dem Haus und obwohl wir uns nie gesehen haben, erkennen
wir ihn auf den ersten Blick. Sein Frau Ira ist Modedesignerin. Zwei junge
Leute sind zu Besuch und Sascha Gnilitzky, der Ehemann von Natasha, in
deren Wohnung wir in Kiev gewohnt haben. Ira spaziert mit uns durch die
Stadt bis zu einem Museum in der ul. Gogolja, wo das Organisationsbüro
eines Kunstvereines ist. Wir treffen wieder auf Sascha (Alex), der offenbar
dort Direktor ist. Dimo, ein Mann aus diesem Büro hat heute Geburtstag
und wir werden zu einer kleinen Feier eingeladen. Dustlos sucht dann das
Weite und rennt Richtung Hafen. Spaziere mit Ira durch die Fussgängerzone
ul. Deribasovskaja und schaue mir Fotografien ihrer Kollektion an. Sascha
Gnilitzky spielt ein Video einer Filmemacherin aus Odessa und geht dann
aber.
Am frühen Abend allgemeiner Aufbruch zur Geburtstagsfeier ins Atelier
von Dimo. Verbringen einige Zeit in einem Geschäft, wissen aber nicht
so recht, wer was wie kauft. Halten schliesslich einen grossen Wagen an
und lassen uns zur Party chauffieren. Dort versteht man sein eigenes Wort
kaum, weil die Stereoanlage so laut aufgedreht ist. Komme trotzdem mit
einigen Gästen ins Gespräch. Rauchen zu Dritt eine Havanna.
Der dritte Mann ist Sascha Cheftchuk, ein Fotograf, der uns auch beherbergen
soll. Nach Mitternacht kommt es zu einem kleinen Zwischenfall, in den
unser künftiger Quartiergeber verwickelt ist. Er raufhandelt auf
der Strasse mit einem jungen Menschen, der mit einer Gitarre vorbeigeht.
Worum es dabei geht, kann ich nicht eruieren. Beide liegen auf dem Asphalt.
Etwas später fahren wir mit dem Fotografen und seiner Freundin in
die gemeinsame Wohnung. Wir landen in einem Museum. Die Wohnung ist sehr
gross, jedoch total angeräumt mit Dingen. Jede Menge schweres dunkles
Mobiliar, dazwischen Kleinzeugs, Geräte, Bilder, eine Katze, ein
Wollknäuelhund und die Grossmutter. Viele Bodenbeläge, im Vorraum
Koffer, die Badewanne voller Wasser, weil die Wasserversorgung nur einige
Stunden am Tag erfolgt. Kein Wunder auch, denn auf welcher Toilette funktioniert
hier ein Spülkasten? Die Toilette übrigens in strengem Geruch,
in der Küche flitzen die Kakerlaken über die Wände. In
dem am wenigsten angeräumten Zimmer werden wir einquartiert. Alsbald
liege ich und schlafe.
Dienstag 30. Mai 1995
Des morgens auf und davon. Finde auf einem Spaziergang das Hotel Moskovskaja
in der ul. Deribasovskaja, wo ich ein Appartement, vier Meter hoch, mit
Balkon miete. Derselbe droht demnächst abzutreten. Die zwei Säulen,
die den Baldachin tragen, lösen sich auf. Der Balkon des nächsten
Zimmers hat sich schon verabschiedet. Bloss einige Eisentraversen rosten
noch im Freien. Im Moment erlebe ich hier eine Feuerpause. Direkt unter
dem Balkon befindet sich die Kommandobrücke eines Strassencafés,
welche normalerweise die ganze Gegend verschallt. Es fühlen sich
landesweit alle Cafétiers einem gemeinsamen Werbekonzept verpflichtet,
demzufolge sie nahezu ununterbrochen ihre premises zu beschallen haben.
Einer der meistgespielten Hits ist: I saw you dancing. Ohne diese Botschaft
kann ich mir das Leben gar nicht mehr vorstellen. Leider kann man, wenn
man etwas besprechen möchte, nicht ins Café gehen.
Am späten Nachmittag Micha Lampert getroffen. Auf seiner business
card steht: Dom Film Productions.
Der Entwurf einer neuen Postsendung geht schleppend voran. Immerhin habe
ich schon Tusche und Papier gekauft. In dem Geschäft verhält
sich das Personal noch wie in der glorreichen Zeit: man wird bloss ignoriert.
Möglicherweise aber muss man zuerst einen Kassabon kaufen, mit dem
man dann die Ware auslösen kann.
Mittwoch 31. Mai 1995
Verabredung mit Micha Lampert. Realisiere ein Fax in seinem Büro.
Seine reizenden Sekretärinnen checken für mich Termine mit dem
country manager von austrian airlines und Felix Kochricht, dem Assistenten
des Herausgebers einer grösseren Zeitung.
Donnerstag 1. Juni 1995
Auf der Fahrt zum Aeroport in einen gröberen Stau gekommen. Eingekeilt
zwischen einem unpassierbaren Strassenbahnschienengewirr und unorthodoxem
Gegenverkehr versucht der Fahrer auf Nebenstrassen sein Glück.
Der Flughafen ziemlich russisch. Bei Herrn Nieschlag im AUA-Büro.
Der Mann will mit unserer Aktion nicht viel anfangen wollen. Das Treffen
ist kurz und schmerzvoll. Sein Budget braucht er selber, im Sept wird
es geplant und im Juni ist nichts mehr übrig. Bin in einer schummrigen
Flughafenkneipe, trinke einen Kaffee und werde beschallt. 'I saw you dancing'.
Freitag 2. Juni 1995
Am Morgen den Druckentwurf zusammengebastelt. Wieder irgendetwas halbfertiges
unzusammenhängendes. Ein Papiergeschäft gesucht. Benötige
für den Versand Kuverts. Die Strassennamen sind jedoch geändert.
Was früher ul. Karla Marxa geheissen hat oder ul. Lenina, heisst
jetzt ul. Katarina die Grosse oder nach Richelieu, womit aber nicht der
Kardinal gemeint ist. Das Studium des Stadtplanes erübrigt sich jedenfalls
unter diesen Bedingungen. Finde schliesslich das Geschäft in der
ul. Puschkinskaja doch. Ein Souterrainlokal, alles neu, die westlichen
Schreibwaren klimatisiert, jedoch keine Kuverts. Elendsweit zu Fuss zurück.
Wechsle irgendwo Geld, gehe zum Postamt und kaufe alte Kuverts. Aus verschiedenen
Verstecken holen die Frauen alte Bestände. Paketabteilung. Eine Frau
sitzt an der Nähmaschine und näht die Pakete in Stoff ein, dann
werden Dutzende Siegel daraufgedrückt.
15.00 Uhr. Im Café in der Passage ul. Deribasovskaja Ecke ul. Sovetskoj
Armij 'I saw you dancing'. Permanente Beschallung. Als erstes, wenn ein
Lokal am Morgen den Betrieb aufnimmt, werden die Lautsprecherboxen ins
Freie getragen und der Claim verschallt. Ich blicke auf eine Kunststoffpalme,
quasi am Ufer des Schwarzen Meeres. Dahinter befindet sich ein Autosaloon.
Es stellt sich die Frage, wie kommt das KFZ durch die Eingangstür.
Ein Mann nimmt eine Fahrzeugpolitur aus der Auslage, offenbar verlangt
ein Kunde danach. Mein Tee ist serviert worden. Ich sitze dort, wo sonst
Micha Lampert seine Nachmittage verbringt, Bier und Vodka trinkend, kettenrauchend.
Heute am Bahnhof gewesen und dort mit Zimmervermietern mitgegangen. Eine
Frau nimmt uns in ihre Wohnung in der Nähe des Bahnhofes mit. Dort
sind sicher ein halbes Dutzend Personen anwesend. Das Zimmer, das sie
uns vermieten will, enthält eine auseinander geklappte Couch, daneben
kann man noch stehen, dann ist schon die Wand. Das hat sie uns, zwei älteren
Männern, gezeigt. Beim zweiten Versuch fahren wir mit einer Oma stadtauswärts
und biegen ins Gelände ab. Spurrinnen, Schlaglöcher, der letzte
Asphalt liegt schon etwas zurück. Wir halten. Sie sperrt einen Verschlag
auf, eine Art Wellblechhütte, schon sauber und nett. Das Zimmer wäre
auch als Hühnerstall nicht übermässig gross gewesen. 10
cm über mir die Decke. Wir bedanken uns und fahren zurück. Die
armen Autos auf diesen Strassen. Kein westeuropäisches Automobil
kann das lange aushalten. Vor allem die Gleiskörper sind tückisch.
Niveauunterschiede in Gehsteighöhe setzen umfassende Ortskentnisse
und Fahrkünste voraus. Den dritten Versuch überlasse ich Dustlos,
der in dieser Hinsicht noch Ambitionen hat. Er wählt einen Vermieter
aus, der mir schon äusserlich eine Vorstellung von periphere, desolate
Bruchbude vermittelt.
Spaziere zum Markt und besuche eine Halle, wo Käse, Butter, Rahm,
Honig etc verkauft wird. Bäuerinnen mit Eimern und Kannen voller
Rahm batzen einem bereitwillig etwas davon auf den Handrücken zum
Probieren. Mit Schöpflöffeln wird die dicke Creme in mitgebrachte
Gläser gegossen. Butter gibt es in der Grösse von halben Bananenkartons.
Was es nicht gibt sind Papiersackerl. Obwohl auf diesem Markt hunderte
Personen verkaufen, ist nicht ein einziges Papiersackerl zu finden.
Die Fleischhalle bereits vor ein paar Tagen besichtigt. Die Fleischburschen
stehen mit ihren Hackstöcken auf Podesten hinter den Verkaufsständen
und soweit das Auge reicht, sieht man Hackbeile auf Fleischstücke
niedersausen.
Die Gemüsehallen sind offen. Sperlinge zwitschern ungeniert, schwer
tätowierte Männer schieben Handwagerl, ziemlich russisch konstruiert,
durchs Marktgelände. Gurkenverkäufer besprühen ihre Ware,
scharf marinierte geriebene Karotten türmen sich.
Samstag 3. Juni 1995
Vernissage von Roitburd, Dulfan und Lykov im occidental and oriental art
museum in der ul. Puschkinskaja. Alle Bekannten getroffen: Vadim, Miroslav,
Lyuda, Valeri, Felix ...Lange noch vor dem Museum herumgestanden und Natalie
kennengelernt. Spazieren dann in mehreren Gruppen zum Strand. Eine kleine
Party in einer Bucht. Feuer, Schaschlik und Wein. Sehr zivilisiert. Komme
mit Tanja ins Gespräch. Ihr Mann ist Maler und Tenor. Sie sind seit
20 Jahren verheiratet, haben aber keine Wohnung. Sie leben im Atelier
im 6. oder 7. Stock. Das Wasser erreicht aber nur die unteren Stockwerke.
Sonntag 4.Juni 1995
15.20 Uhr. Im Lieblingscafe in der Passage ul. Deribasovskaja Ecke ul.
Sovetsky Armi. Wie immer durchgehend verschallt. Der Lautsprecher ist
schon etwas am Sand. Er bröselt im Bassbereich.
Wieder am Markt gewesen. Ein Mysterium ersten Ranges. Was dort alles verkauft
wird. Sonnenblumenkerne, Haarspray, Kanarienvögel, Fredi Keks. Am
Nachmittag mit Natascha eine desolate Kirche besichtigt. Später besuchen
wir Dimov und Zoj im Atelier.
Montag 5. Juni 1995
Das Postamt besucht und Briefmarken zu kaufen versucht. Ein Unterfangen.
Zum Glück steht jemand neben mir, der English spricht. Kaufe schliesslich
3200 Briefmarken zu je 10.000.-Kupon.
Dienstag 6.Juni 1995
Rufe Natascha an, erreiche aber nur ihre Mutter. Am Abend treffen wir
uns zufällig vor dem Hotel.
Mittwoch 7.Juni 1995
16.30 Uhr in der Lounge des Hotel Cernoe More, eine dunkle Spelunke, wo
wir einen Cafe und einen Cognac bestellt haben. Natascha hat einen Termin
in der Soros Foundation, ich muss ins Kino Studio am Franzuskij bulv.
Am Abend muss ich beinahe die Hotelzimmertür zu Späne zerklopfen,
weil Dustlos durch den Moldawischen Wein offenbar überraschend ertaubt
ist.
Donnerstag 8.Juni 1995
Hole mir die ausgearbeiteten S/W Fotos im Kino Studio ab. Fahre mit Natascha
in in die Vorverkaufshalle der Eisenbahn. Es gibt aber keine Fahrkarten
nach Simferopol auf Krim. Eine Frau verkauft mir privat eine Karte um
900.000 Kupon.
Freitag 9.Juni 1995
Aus dem Hotel gecheckt. Das Gepäck in einen Kofferraum verbracht.
Suche mit Dustlos das Hotel Krasnaja in der ul. Puschkinskaja. Rennen
jedoch daran vorbei. Fahre mit einem Taxi zurück zur ul. Deribasovskaja
und dann mit Vadim zum Bahnhof. Der bestellte Schwarzhändler wartet
schon. Kaufe zwei Tickets um 4 Mio Kupon. Treffe Natascha und begleite
sie zur Telefonrechnungbegleichungsbehörde. Zurück gehen wir
durch ein Viertel, das angeblich von drug addicts bewohnt wird.
Samstag 10. Juni 1995
Im Zug nach Simferopol. Flache Gegend und meist verläuft die Bahnlinie
im Laubwaldkorridor, sodass man nichts sieht von der Landschaft. Ob das
Absicht ist? Teilen das Abteil mit einer Frau, die am Bahnsteig von Bauern
einen Eimer mit Erdbeeren kauft. Nachts steigt Igor, ein Russe aus Noworossisk
zu. Mit seinem Sohn Maxim. Igor arbeitet auf einem Tanker in den Emiraten.
Über 10 Jahre hat er auf einem Atom U-Boot verbracht. Wir rauchen
am Waggonende eine Zigarette miteinander. Wer in der Ukraine 100$ im Monat
verdient, der ist schon gut dran, sagt Igor. Viele Pensionisten erhalten
nur 10$.
Inzwischen in Simferopol angekommen. Zeuge einer kleinen Rangelei geworden.
Ein Fahrer will uns tatsächlich um 10$ nach Yalta chauffieren. Das
entspricht aber offenbar nicht dem Kartell. 30$ ist der offizielle Preis.
Fahren schliesslich mit dem einmaligen Oberleitungsbus um eine Bagatelle
nach Yalta. Am Busbahnhof gehen wir mit einer Frau mit, die Privatzimmer
anbietet. Das Zimmer ist hell und sauber, so bleiben wir gleich.
Sonntag 11.Juni 1995
Am Strande herumgelegen. Auf der Uferpromenade spaziert. Ein Duo mit Kontrabass
und Gitarre gehört und gesehen. Im piekfeinen Hotel Orlando einen
lauwarmen Kaffee getrunken. Mit Dustlos ein Lokal an der Uferpromenade
aufgesucht und ein halbes Hendl angekauft. Einen Flügel verzehrt.
Grauenhaft. Dazu bittere pommes frites. Ein Salat besteht aus einer zerschnittenen
Tomate und ein paar Gurkenscheiben. Ein Schiff läuft in den Hafen
ein, wahrscheinlich dasjenige, welches ich gestern beim Auslaufen schon
beobachten konnte. Jedenfalls regnet es jetzt. Die Betonterrasse entlang
des als Industrieruine designten Strand duftet nach frisch angefeuchtetem
Staub. Der Regen wird kräftiger, könnte mich duschen, werde
aber dabei erfrieren. Dem ankommenden Schiff nähert sich ein Schlepper.
Am Nachmittag zweimal innerhalb einer Viertelstunde von schwerbewaffneten
herumstreunenden Trupps angehalten und auf russisch wahrscheinlich zur
Ausweisleistung aufgefordert worden. Der österreichische Pass ist
hier von grossem Vorteil: er hat einen guten Ruf und lesen können
sie ihn auch nicht. So wie ich ja kaum etwas Russisches lesen kann. Sie
durchblättern das Dokument und staunen über die Visa. Sie fragen,
wo ich wohne, dabei gestikulieren sie "Schlaf". Was aber soll
ich antworten? Den wohlklingenden Namen eines bekannten Hotels? Sie verabschieden
sich und salutieren. Was aber suchen die und wie abgerissen muss ich schon
daherkommen, dass ich dauernd kontrolliert werde ?
Gehe in ein Cafe, welches mir durch die Aufschrift Rock & Roll aufgefallen
ist. Komme dort mit einem desillusionierten kahlköpfigen Einheimischen
ins Gespräch, welches jedoch eines Dolmetschers bedarf. Ein junger
Musiker übersetzt mir, dass es in der Ukraine keine Menschenrechte,
wie von der UNO proklamiert gebe, und dass er, mein ursprünglicher
Gesprächspartner auf dieses Land spucke. Der Mann mit den kurzen
Haaren schenkt mir noch unbedingt sein Halsketterl. Kaufe eine Flasche
Wein. Auf der Promenade sitzt eine Gruppe von Portraitmalern. Ein Gitarrist
singt lange Balladen. Komme mit Roman ins Gespräch, der für
10 $ im Monat, 5 Stunden täglich, Gitarre unterrichtet hat. Lerne
dort auch Ira kennen, die mich zu einem Spaziergang einlädt.
Montag 12.Juni 1995
Am Strande von Yalta. Liege hier mit drei jungen Menschen im Schotter.
Ein Motorboot wird gerade über eine Krananlage ins Wasser gelassen.
Ein kleines Passagierschiff fährt von Yalta in Richtung Sebastopol.
Links und rechts von dem kleinen Strand sind Betonwälle ins Meer
hinaus gebaut, auf denen sich entweder ein Sonnendeck oder eine Reihe
von Betonsäulen, die eine Krananlage tragen, befindet. Sonnenschirme
flattern im Wind, im Hintergrund Himmel. 19.40 Uhr in einem Lokal hart
an der Uferpromenade in einem Kunststoffsessel. Ein krächzender Lautsprecher
versorgt von einer unfernen Bootsanlegestelle aus die Uferpromenade mit
Information. Das an Nescafè angelehnte Gebräu in einem Kunststoffbecher
scheint mir doch für den menschlichen Genuss zumindest fragwürdig
zu sein.
Soeben Zeuge einers seltsamen Vorfalles geworden, dessen Beginn mir jedoch
entgangen ist, da ich auf meinen Tischnachbarn, einen Herrn in Stiefeletten
und schwarzem Designeranzug geschaut habe. Plötzlich steht an der
Promenadenbrüstung, von wo es gut zwei Meter in die Tiefe geht, ein
kräftiger Herr, offensichtlich ein Kellner des Etablissements, in
dem auch ich mich befinde, und schwingt einen armen Teufel waagrecht über
den Abgrund. Hinter mir rufen robust gebaute Kellnerinnen den Namen des
Rohlings auf eine Art und Weise, dass derjenige sein angedeutetes Vorhaben
abbricht und den Mann entlässt. Derjenige ist geschockt und steht
noch einige Zeit verloren herum bis er sich entfernt.
20.15 Uhr. Roman ist gerade vorbeigegangen. Mit einem Freund. Beide mit
Gitarren. Habe gestern um 10.00 Uhr eine Verabredung mit ihm gehabt. Bin
aber um diese Zeit in einem Bus nach Gaspra gesessen, besser gesagt gestanden
bzw in der Folge derart eingekeilt worden, dass ich in einem nicht unbegründeten
Anfall von akuter Klaustrophobie unter Zuhilfenahme aller mobolisierbaren
Kräfte in einer Haltestelle aus dem Bus flüchten konnte. Eine
ältere Frau, die partout nicht mit dem Einsteigen warten wollte,
ist dabei zu Boden gegangen. Da sie gut gepolstert war, ist ihr nicht
viel passiert. Dustlos, der im Bus
geblieben ist, hat mir später berichtet, dass noch mehr und mehr
Passagiere zugestiegen sind. Jedenfalls habe ich so meine Unzuverlässigkeit
in der Einhaltung von Verabredungen abgebüsst.
Ein Mann in extremer Rückenlage geht vorbei. Äusserst seltsamer,
wenngleich abwechslungsreicher Anblick. Dazwischen immer wieder die Lautsprecher
der Passagierschiffanlegestelle.
Soll ich mir vielleicht einen Cognac bestellen ? Wieder ist jener Mann
in extremer Rückenlage vorbeigegangen. Ein Schiff fährt aus
dem Hafen, gleichzeitig rollt ein Militärjeep mit einer Ladung Uninformierter
vorbei.
Dienstag 13.Juni 1995
Nach ausgiebigem Frühstück bei angenehmer Hitze Richtung Meer
spaziert. Vorbei an dem Hotelkasten "Yalta" in einen darniederliegenden
Hafen gelangt. Von einem halben Dutzend Kränen ist einer in Betrieb.
Halte mich auf riesigen Betonsegmenten auf, die als Wellenbrecher entlang
der Wasserlinie aufgereiht sind. So ein Betongebilde würde von seinen
Dimensionen her Platz genug für einen PKW bieten. Dahinter befindet
sich eine eisenarmierte Betonpromenade, die jedoch von heftigen Meeresbewegungen
durcheinandergerüttelt und geworfen worden ist. Eine Betonruine grössten
Ausmasses.Durch die Verwerfung sind stellenweise ganze Stränge von
Eisenbahnschienen zum Vorschein gekommen.
Hier herrscht jedenfalls Ruhe. Ab und zu harmloses Klopfen von Bord eines
rostigen Schiffes, ansonsten bloss Meeresrauschen. War zuvor nahe der
Hotelkiste "Yalta" auf einem mustergültig betonierten Strand,
habe sogar 100.000.- Kupon Eintritt bezahlt, was immerhin 2/3 Dollar sind,
und dann ist plötzlich das gesamte Gelände mit einem Radioprogramm
kompromisslos verschallt worden. Eiliger Aufbruch.
18.00 Uhr. Roste wieder in Kunststoffgestühl an der Uferpromenade.
Nicht einmal bedient wird man hier. Alles muss man sich selber holen.
Dabei ist der Laden in bester Lage. Ununterbrochen gehen hier Urlauber
hin und her. Leider habe ich vergessen, dass sie hier furchtbar viel Zucker
in den Kaffee geben. So sitze ich vor einer ungeniessbaren Brühe
und einer Packung deutschen Apfelsaftes. Den muss ich unter den Sessel
stellen, ich ertrage den Anblick nicht. Die städtische Müllabfuhr
fährt vor. Das Fahrzeug erinnert mich an einen Kombi.
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